Brief des Generalsekretärs Rev. Dr. Sam Kobia,
Weltkirchenrat an Frau Dr. Condoleezza Rice, US- Staatssekretärin,
Washington
Genf, am 8. Februar 2006
(übers.: Gerhilde Merz)
Exzellenz,
Ich schreibe diesen Brief an einem kritischen
Wendepunkt des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern. Wir
wenden uns an Ihr Amt mit dem zu tiefst empfundenen Wunsch, alle
Mitglieder des Nahost-Quartetts (Anm.: USA – EU – Palästina –
Israel) mögen neue Wege finden, um der neuen Situation gerecht zu
werden, die sich aus der Wahl in Palästina im vergangenen Monat
ergibt. Der Weltkirchenrat möchte Ihnen empfehlen, ihre
Verantwortungen in diesem Punkt voll auszuspielen. Es hängt jetzt
viel davon ab, wie die internationale Gemeinschaft unter Ihrer
Führung reagiert angesichts der zunehmend breiten und gefährlichen
Verwicklungen dieses ungelösten Konflikts für die Region und einen
großen Teil der Welt.
Wir möchten Sie auf drei Aspekte der neuen Situation
hinweisen, die Chancen auf einen wirklichen Fortschritt in Richtung
auf Frieden darstellen.
Erstens: In einer ernsthaften Ausübung seiner
bürgerlichen Rechte hat das Volk von Palästina, dem Rechte
abgesprochen worden waren, in markanter Mehrheit seinen Willen durch
Wahlen ausgedrückt, die von internationalen Beobachtern als frei und
fair beschrieben werden. Das Wahlergebnis sendet eine demokratische
Warnung an die internationale Gemeinschaft aus, die verantwortlich
ist für die seit langem zurückgehaltene Erfüllung internationaler
Verpflichtungen am palästinensischen Volk.
Das Votum ruft auch alle Autoritäten zur Wahrnehmung
ihrer Verantwortlichkeit auf, was die Grundbedürfnisse und legitimen
Rechte des Volkes der Palästinenser und untrennbar von ihrem
Schicksal, der Israelis betrifft. Jetzt muss die Politik antworten.
Wie es die Kirchenführer in Jerusalem formuliert haben, bieten sie
ihre Mitarbeit mit der neuen Regierung an, „für das öffentliche
Wohl und die nationalen, im Einklang mit der Sache der Gerechtigkeit
und des Friedens stehenden Bestrebungen der Palästinenser auf einen
gewaltlosen Weg...“ einzutreten. Wir ersuchen Sie, Ihre
Friedenspolitik auf die gleiche feste Basis zu stellen und Ihr
gewichtiges Amt einzusetzen, um sicherzustellen, dass andere
Konfliktparteien ebenso tun.
Die Richtung in die nahe Zukunft wird davon abhängen,
ob die neue palästinensische Führung laufende Antworten der größeren
internationalen Gemeinschaft in ihre Einschätzungen aufnimmt oder
sich auf engere, regionale Perspektiven beschränkt.
Zweitens braucht die neue palästinensische Autorität
wie jede neu gewählte Regierung Zeit, um sich zu positionieren und
sich selbst zu erproben. Wir schärfen allen Migliedern des Quartetts
ein, konstruktive Geduld zu zeigen, weil die neue Autorität ihre
Positionen zu füllen, ihre Programme zu entwickeln, alte politische
Positionen neu zu evaluieren und neue Perspektiven zu zeigen hat.
Zeit wird auch gebraucht, um das neue Spiel der Kräfte zu entdecken,
das für Verhandlungen nötig ist.
Drittens wird ein Friedensprozess, der diesen Namen
verdient, eine dritte Kraft benötigen, die der Weltkirchenrat
beschreibt als „aktiv, bestimmt, objektiv und beharrlich“. Unserer
Einstellung nach ist das „Quartett“ die gesuchte Kraft, um Israelis
und Palästinenser an gerechte Verhandlungsbasen und Bedingungen zu
halten. Als Kirchen, die seit fast 60 Jahren diesen Konflikt und das
Umgehen damit angesprochen haben, ersuchen wir Sie dringend, einen
hohen Wert auf Gleichbehandlung an diesem kritischen Wendepunkt der
Zeit zu setzen. Sich anders zu verhalten, würde den Frieden und noch
viel mehr riskieren, sowohl in der Region wie auch außerhalb.
Das Engagement der neuen palästinensischen Autorität
wird gebraucht kraft ihres Mandats, dem öffentlichen Wohlbefinden zu
dienen. Eine Politik der Behinderung, wie das Zurückhalten
öffentlicher Gelder, wird ernste Konsequenzen haben. Auf dem
humanitären Gebiet warnen mit der Kirche verbundene Agenturen , die
für die medizinische Versorgung der palästinensischen Bevölkerung
sorgen, vor sofortigen und akuten gesundheitlichen Konsequenzen für
die Armen, denn diejenigen, die palästinensische Steuergelder
kontrollieren, die für Gesundheitsdienste gedacht sind, halten die
Gelder zurück. Willkürliche Zurückhaltung von Hilfe wird die gleiche
Wirkung haben.
In einem weit größeren Ausmaß wird eine wegen der
Vergangenheit von Hamas überstürzte Isolierung einer Regierung mit
Hamas die sowieso schon schwer gestörten Beziehungen des Westens zu
den Menschen der muslimischen Welt weiter belasten.
Schlimmstenfalls werden Isolierung und Stigmatisierung zu der sich
selbst erfüllenden Prophezeiung, dass nämlich ein größerer
politischer und kultureller Konflikt vor uns liegt. Gegenwärtige
Ereignisse, angezeigt durch ausschließende Wahrnehmungen auf beiden
Seiten, machen das schmerzlich klar.
Doppelte Standards zu beenden ist ein grundsätzliches
Element für den Fortschritt. Wenn Respekt vor vorhandenen
Übereinkommen von der einen Seite verlangt wird, muss er auch von
der anderen Seite verlangt werden. Wenn die Demokratie als der
Schlüssel zum Fortschritt in der Region angesehen wird, muss dieser
Demokratie auch eine glaubwürdige Chance gegeben werden. Wenn Gewalt
mit Demokratie und Frieden unvereinbar ist, gilt das sowohl für die
israelischen wie auch für die palästinensischen Autoritäten.
Der Weltkirchenrat verurteilt alle Formen der Gewalt
gegenüber Zivilisten. Wir verurteilen auf das Schärfste alle
Angriffe von palästinensischen Gruppen auf unschuldige Zivilisten
innerhalb des Staates Israel und durch den Staat Israel und seine
Verteidigungskräfte innerhalb der besetzten palästinensischen
Gebiete. Ein Signal durch das Quartett mit ähnlichen Aussagen wäre
das Zeichen für eine neue Gleichbehandlung gegenüber den
Konfliktparteien und würde als solches von weiten Kreisen begrüßt
werden.
Es ist dringend und höchste Zeit für alle Parteien,
zu den Resolutionen der UN zurückzukehren, in denen die elementaren
Gründe für diesen Konflikt angesprochen sind. Extremistische
Positionen sind in das Vakuum eingesickert, das sich durch deren
Nicht-Anwendung gebildet hat, besonders, weil der Umgang mit
Frieden seit Oslo die Hoffnungen moderater Parteien genährt und
diese dann zermalmt hat.
Die Internationale Gemeinschaft einschließlich des
Sicherheitsrates und seiner Quartett-Mitglieder tragen vor einander
die volle weitergehende Verantwortung für eine wirksame Anwendung
der UN-Resolutionen 242, 338, 1397 und 1515. Die hohen
vertragsschließenden Parteien der Vierten Genfer Konvention seien in
die Pflicht gerufen, die Verletzungen der Konvention zu beenden, die
Landraub und Leiden in den besetzten palästinensischen Gebieten
verursachen, einschließlich Ost-Jerusalem. Der Internationale
Gerichtshof hat in seinem beratenden Gutachten von 2004 wichtige
Beurteilungen hinsichtlich der Illegalität der Grenzmauer gegeben.
Solche Gesetzesstandards zu ignorieren dient nur dazu, den Konflikt
zu verlängern.
Die Mitglieder des Quartetts sind in einmaliger Weise
dazu eingesetzt, die Friedensarbeit voranzubringen. Die EU als der
größte Geldgeber der palästinensischen Autorität sollte Standards
für die Verwendung von Geldern, die die Rechte, das Wohlergehen und
die verbesserte Verwaltung des palästinensischen Volkes sichern
sollen, setzen. Wir stimmen dem kürzlich von der Leitung der EU
gegebenen Signal zu, dass nämlich beide Parteien einander
anerkennen müssen und miteinander gewaltfrei zu verhandeln haben.
Die UN, Garant für den Status von Jerusalem und
Stütze der Prinzipien des internationalen Rechts, muss nun in dieser
Stadt wieder Richtungen bestimmen, da eine muslimische Partei das
palästinensische Volk repräsentieren wird. Der einmalige Status der
geteilten Stadt, der für Jerusalem ins Augegefasst wurde, ist
schwerstens bedroht durch die unilateralen Aktionen, die neuestens
dort augenscheinlich sind.
Russland hat das fürchterliche Leiden der Bevölkerung
durch den Krieg erfahren und hat in neuerer Zeit systematische
Veränderungen in den politischen Paradigmen zugelassen, die die
politischen Aussichten der Nation formen.
Die Vereinigten Staaten haben durch ihr langes
Einwirken in der Geschichte das Vertrauen Israels gewonnen. Dadurch
ergibt sich die besondere Verantwortung, Israel zu helfen, eine
dauernde Sicherheit innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen und
nach geltenden Gesetzen zu erhalten. Ebenso liegt es im tiefsten
Interesse jedes Mitglieds des Quartetts, die Selbstbestimmung als
ein Recht zu behandeln, das das palästinensische Volk erwartet -
und nicht als eine Belohnung, die von seinem Gegner kontrolliert
wird.
Die öffentliche Meinung in Pfarrgemeinden und bei
anderen mitdenkenden Gruppierungen rund um die Erde richtet sich
jetzt auf eine weise Führung durch Ihr Amt. Eine tiefe Ermüdung
über die Intrigen, die an den Grundvoraussetzungen für den Frieden
vorübergehen und einen schweren Tribut von den beiden Völkern
fordern, die das Land teilen, ist vorhanden.
Der Pfad zum Frieden ist in der Tat schwieriger
geworden, aber er ist noch sichtbar. Wir ersuchen Sie dringend, neue
Bewegung in dieser Richtung zu zeigen. Begleiten Sie die Führer von
Israel und Palästina mit Mut und Geduld in eine Richtung, die ihren
Leuten Grund für Hoffnung gibt. Wir übersenden Ihnen diese
Beobachtungen in der Überzeugung, dass es jetzt neue Möglichkeiten
für den Frieden gibt. Wir freuen uns auf Ihre Antwort.
Mit Hochachtung
Rev. Dr. Samuel Kobia
Generalsekretär des Weltkirchenrates |