Das Palästina Portal - Täglich neu - Nachrichten, Texte die in den deutschen Medien fehlen. gegen Gewalt und Rassismus, einem gerechten Frieden verpflichtet, Politisch und finanziell unabhängig

 Kurznachrichten       Themen       Links       Archiv       Facebook      Sponsern Sie     Aktuelle Termine      Suchen

Bilder von der Olivenernte 2003.

   

Freiwillige Helfer aus Israel und dem Ausland helfen bei der Ernte

 

Israelische Siedler attackieren palästinensische Bauern beim Versuch, ihre Oliven zu ernten.

 

  

 Abgeschnittene Olivenbäume

 

Die Seite, die ich sehe: Gedanken während der Olivenernte
 

Gottesdienst im Olivenhain
Israelische Rabbiner beschützen palästinensische Bauern vor den Übergriffen jüdischer Siedler - indem sie ihnen demonstrativ bei der Ernte helfen mehr >>>

 

 

Die Seite, die ich sehe: Gedanken während der Olivenernte

Flo Razowsky, Westbank, 7.11.2003

Flo Razowski ist ein jüdischer Amerikaner aus Minnesota, der mit IMS auf dem Boden Palästinas gearbeitet hat.

Ich kam als Außenseiter in diese Welt, als einer der eigentlich zu den Besatzern gehört, als einer der kämpft, lernt und die Wahrheit nach Hause bringt. Es sind jetzt mehr als sechs Monate, seitdem ich zum 2. Mal in meinem Leben meine Füße auf dieses umstrittene Land gesetzt habe. In dieses Land, das meine Freunde und die ich zu unterstützen gekommen bin, Palästina nennen.

 Und so begann der Konflikt: verbale Attacken, Beleidigung meiner Intelligenz, das Ausspucken all dessen, was mir durch Gehirnwäsche beigebracht wurde. Ich habe erlebt, ja erlebe noch, wie sich die Wahrheit aus meiner gehirngewaschenen Erziehung entfernte. Es ist der Teil der Geschichte, den ich versäumte, weil man so sehr damit beschäftigt war, mir über all die arabischen Terroristen zu erzählen und wie wichtig es sei, die Sicherheit Israels zu schützen – den Ort, von dem man mir sagte, es sei meine Heimat, für die ich kämpfen müsste.

 Ich verbrachte sechs Monate jenseits der Linie, wo ich – gemäß meiner Herkunft - sein sollte. Sechs Monate, in denen ich fast täglich wie in einem Gefängnis aufwachte, umgeben von Mauern, Sperrzäunen, Toren von jenen der anderen Seite. In diesen Tagen gibt es keinen anderen Weg hinein oder heraus außer durch ein Tor dieses Zauns, das von Soldaten der anderen Seite bewacht wird. Jeder Zugang zum Rest der Westbank wird kontrolliert.

Schon nach diesen wenigen Monaten kann ich den Stress in mir fühlen, der sich da aufbaut – kaum zu vergleichen mit dem von denen, die hier geboren und aufgewachsen sind. Die äußerst angespannte Situation kommt daher, dass jede deiner Bewegungen, Atemzüge, Gedanken von jemand anderem kontrolliert wird. Kontrolliert von einem Besatzer. Auch wenn er es niemals zugeben will, behandelt er jedes einzelne Wesen auf dieser Seite der Mauer wie einen Terroristen.

In den Stunden, die man am Checkpoint in der Sonne steht und auf die Erlaubnis wartet, um von der Universität nach Hause zu fahren, wird man von 18 Jährigen nicht mehr wie ein Mensch behandelt. Wenn die Reihe der seit Stunden in der Sonne Wartenden nicht ordentlich genug ist, schließen sie den Checkpoint. Das ist der Stress des täglichen Lebens. So baut sich langsam eine tickende Bombe in einem auf.

 Und eines Tages wird die Bombe Wirklichkeit und explodiert voller Frust und Zorn.. Es gibt keine Propaganda in den Schulbüchern, nicht angeborenen Hass, der die Leute dieses Benehmen lehrt. Es sind die Lektionen, die man auf den Straßen lernt. Die Soldaten, die besetzen, die Soldaten, die kontrollieren, die Soldaten, die dich so hart herumstoßen – da gibt es keinen Ausweg.

 An jedem Morgen, an dem Kinder einen weiteren Schultag versäumen, weil die Soldaten das Tor des Trennungszaunes nicht öffnen wollen, für jeden Mann, der mit verbundenen Augen und in Handschellen an einem Checkpoint abgeführt wird, weil er verdächtig aussieht, für jedes Kind, das nachts wegen des unaufhörlichen Schießens und dem Panzerlärm nicht schlafen kann, wird ein Kämpfer geboren. Einer der Widerstand leistet mit Steinen, einer Waffe oder mit seinem Körper. All diese von jemand anderen kontrollierten Augenblicke des Lebens gehen so lange, bis man aufschreit und zurückschlägt. Sie werden offensichtlich und plötzlich erfüllst du ihre Erwartungen, plötzlich bist du in der Falle. Eine Falle, die sie genau für dich geschaffen haben, in die du hineinfällst oder hineingestoßen wirst – je nach dem.

In allen Nachrichten, politischen Analysen, den Todeslisten wird diese Tatsache niemals erwähnt. Du wirst in ihren Augen, in ihren Worten niemals etwas anderes als ein Terrorist sein, der von Hass, Religion und Fanatismus motiviert wurde. Niemals wird die andere Seite ihren Anteil an all dem (Schrecklichen) zugeben. Ich allerdings kann die Realität erkennen. Von Grund auf kann ich sie spüren.

 Und nun hat die Olivenernte begonnen. Tagelang nur unter den Olivenbäumen gehen und das Geräusch der Knüppel hören, die in die Bäume fliegen, um die Oliven abzuschlagen. Es gibt sogar viele Augenblicke, die mir erlauben, die Besatzung zu vergessen. Doch wenn es diese tatsächlich nicht gäbe, dann wäre meine Gegenwart hier unnötig oder wenigstens völlig anders. Falls Soldaten oder Siedler diese Bauern angreifen sollten, wäre meine Gegenwart nötig.

 Diese Augenblicke des Vergessens werden aber weniger. Das Vergessen zerstiebt jedes Mal, wenn ich aufsehe und in der Ferne eine Siedlung sehe und jedes Mal wenn die Soldaten zwischen den Olivenhainen und den Häusern der Bauern einen Checkpoint einrichten. Und jedes Mal, wenn ein F16-Kampfflieger über unsere Köpfe fliegt, jedes Mal, wenn uns der Ruf erreicht, es seien Panzer auf den Straßen – dann verschwindet die Fähigkeit des Vergessens .

In diesen Tagen, in denen die Mauer in dieser Region der Westbank vollendet wird, ändern sich auch die Regeln wieder. Nun liegt ein großer Teil des landwirtschaftlich genützten Landes westlich des Zaunes und ist nur durch spezielle Tore zu erreichen, die von Soldaten kontrolliert werden. Sogar jene, die sich erniedrigt und um Passierscheine gebeten haben und denen klar ist, dass das Land auf der anderen Seite ihnen nicht mehr gehört, werden nur nach Laune der Soldaten durchgelassen.

An einem Tag dürfen nur Männer über 35 durch, am nächsten nur die eben geheiratet haben und ein anderer Soldat verlangt eine Identitätskarte für einen Esel.

 Wochenlang waren alle Tore geschlossen und keiner wurde durchgelassen. Der Grund, den die Soldaten angegeben haben? Sukkot, das jüdische Erntefest. Die Fähigkeit des Vergessens geht an der Realität verloren. Diese Zeit, die ein Bewusstsein der Gemeinschaft hätte bringen sollen, da beide Seiten ihr Erntefest feiern, bringt, wie so vieles andere in diesem Land, beide Seiten nur weiter auseinander.

Ich behaupte nicht, dass eine der beiden Seiten (dieses sog."Separationszaunes") perfekt, unschuldig oder gar rein sei, dass es keine Fehler auf der Seite gibt, auf der ich eben sitze. Ich werde weiterhin behaupten, dass die Wirklichkeit auf diesem Boden nicht so leicht auseinander genommen werden kann, wie die Nachrichtensprecher und Analysten uns weis machen wollen.

Es ist nicht so einfach, wie die aufgescheuchten Unschuldigen die großen, bösen Terroristen beschreiben. Wenn man von drinnen nach draußen schaut, werden die Dinge viel klarer. Die täglichen Begegnungen mit den Soldaten - viele von ihnen geben zu, 48 Stunden hintereinander wach und im Dienst gewesen zu sein – klären die Realität ab und erlauben mir, besser zu verstehen, was hier vor sich geht – sie zeigen mir eine Verständnisweise, die keine Zeitung anbietet.

Es ist für mich unmöglich, anzunehmen, dass irgend jemand mit einem offenen Herz und klaren Verstand, der Zeuge dieser Situation hier vor Ort wird oder über alternative Quellen von Nachrichten verfügt, zu einer anderen Schlussfolgerung kommt als ich.

(Aus dem Englischen zuweilen etwas freier übersetzt: Ellen Rohlfs)

Start | oben

Impressum         Haftungsausschluss        KONTAKT           Datenschutzerklärung         arendt art