Ausschuss
für öffentliche Angelegenheiten im Zentralausschuss des
Ökumenischen Rates der Kirchen
13. – 20. Februar 2008
Stellungsnahme des gegenwärtig in Genf tagenden Zentralkommittes
des ÖRK zur Situation in Gaza
1. Die Oberhäupter der Kirchen
in Jerusalem wiesen am 22. Januar 2008 in einem alarmierenden
Appell im Zusammenhang mit der Lage der Menschen im Gazastreifen
warnend darauf hin, dass „eineinhalb Millionen Menschen ohne
ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten
eingesperrt sind und 800 000 keine Elektrizität haben. Dies ist
eine rechtswidrige kollektive Bestrafung und ein unmoralischer
Akt, der gegen das Völkerrecht verstößt. Dies kann nicht mehr
länger geduldet werden. Die Abriegelung des Gazastreifens sollte
umgehend aufgehoben werden.“
2. Die Bevölkerung des
Gazastreifens befindet sich seit Jahren in einer gravierenden
humanitären, Menschenrechts- und politischen Situation, die sich
ständig verschlechtert. Die politische Logik, die diesem
winzigen Streifen Land aufgezwungen wird, wird auf eine neue
Spitze getrieben. Die öffentliche Ordnung wird noch stärker von
internem Druck bedroht. Der Horizont für die Menschen an diesem
Ort, der zu den bevölkerungsreichsten der Erde zählt, scheint
sich mit jeden Tag zu verengen.
3. Zusätzlich zu dem
humanitären Bedarf, auf den die Verantwortlichen der Kirchen in
Jerusalem oben hinweisen, berichten die Vereinten Nationen sowie
Nichtregierungs- und kirchliche Organisationen, dass mehr
Menschen im Gazastreifen als jemals zuvor – 80 Prozent der
Haushalte – unterhalb der Armutsgrenze leben und Nahrungsmittel
sowie direkte Hilfe benötigen; dass die Brennstoffverknappung
grundlegende Dienstleistungen wie sanitäre Grundversorgung und
Wasserversorgung verhindert; dass in den örtlichen
Krankenhäusern keine lebensrettenden Behandlungen mehr
durchgeführt werden können; dass Babymilch und Speiseöl knapp
geworden sind; dass zahlreiche öffentliche Einrichtungen bei
militärischen Angriffen zerstört worden sind und dass es in den
Schulen kein Lehr- und Schreibmaterial mehr gibt; dass Hunderte
von Geschäfte bankrott gemacht haben, die Hälfte der
Arbeitskräfte arbeitslos ist und die Wirtschaft zusammenbricht.
Es wäre notwendig, von spärlicher humanitärer Hilfe zu
regelrechter Entwicklungshilfe überzugehen, und mehrere
Hilfswerke bezeichnen die zurzeit zugelassene Hilfe von außen
als humanitäre Hilfe „über den Tropf“.
4. Menschenrechtsverletzungen
verschlimmern die humanitäre Lage und nehmen mit der
eskalierenden Gewalt zu. „Das Recht auf Leben aller Menschen in
der Region ist in Gefahr“, erklärte die Hohe Kommissarin der
Menschenrechte der UNO Louise Arbour auf einer Sondersitzung des
Menschenrechtsrates im vergangenen Monat. Sie wies darauf hin,
dass im benachbarten Israel, wo zwei Städte wahllos von
Militanten im Gazastreifen unter Raketenbeschuss genommen
werden, im vergangenen Jahr sieben Zivilisten durch bewaffnete
Verletzungen des Kriegsrechts umgekommen seien. Sie berichtete
ferner, dass im vergangenen Jahr bei Angriffen von israelischen
Streitkräften auf Gaza durch gezielte Tötungen und den Einsatz
unverhältnismäßiger militärischer Mittel 131 palästinensische
Zivilisten getötet worden seien.
5. Kommissarin Arbour sagte,
dass Palästinenser im Allgemeinen und die Bevölkerung im
Gazastreifen im Besonderen „systematisch an der Ausübung fast
aller ihrer Menschenrechte und der Befriedigung ihrer
Grundbedürfnisse gehindert werden“. Die Freizügigkeit der
Menschen sowie der Waren- und Dienstleistungsverkehr von und
nach Gaza ist großen Einschränkungen unterworfen, speziell
entlang der Grenze mit Israel. Mit Blick auf das Recht auf
Nahrung berichtet das Welternährungsprogramm, dass
Grundnahrungsimporte nur die Hälfte dessen betragen, was
erforderlich ist, und die Weltgesundheitsorganisation berichtet
im Zusammenhang mit dem Recht auf Gesundheit, dass die Blockade
fatale Auswirkungen für die Gesundheitsversorgung und
medizinische Infrastruktur habe. Das Recht auf Arbeit, auf
Bildung und auf eine angemessene Wohnung ist ebenfalls bedroht.
6. Alle direkt beteiligten
Behörden, die De-facto-Hamas-Behörde und die
Palästinensische Autoritätsbehörde - in dem Maße, in dem sie
Kontrolle ausüben - ebenso wie die israelische Regierung haben
gemäß den internationalen Menschenrechten und dem humanitären
Völkerrecht die Grundpflicht zum Schutz der Bevölkerung des
Gazastreifens. Andere Regierungen sind indirekt beteiligt, wie
die Mitglieder der Europäischen Union, die für die reduzierten
Brennstofflieferungen zahlen.
7. Es ist im Interesse aller
beteiligten Parteien, auf die politische Reintegration von Gaza
mit dem Rest des besetzten palästinensischen Territoriums
hinzuarbeiten, anstatt die Isolierung und Bestrafung von Gaza zu
akzeptieren. Jeder glaubwürdige Friedensprozess muss eine
Versöhnung zwischen den palästinensischen Parteien anstreben und
alle gewählten Vertreter/innen des palästinensischen Volkes
einbeziehen. In der Zwischenzeit dienen weder der Abschuss von
Raketen, noch Selbstmordattentate, noch die kollektive
Bestrafung Gazas und andere Aktionen wie Siedlungen,
Straßensperren, unbefristete Inhaftnahme und Tötungen ohne
Gerichtsverfahren dem Frieden.
8. Entsprechend bringen wir als
der Ökumenische Rates der Kirchen unsere tiefe Betroffenheit
über die humanitäre Lage im Gazastreifen zum Ausdruck, unsere
zunehmende Beunruhigung angesichts der ständigen Verletzung der
Menschenrechte sowie der unaufhörlichen Verluste von
Menschenleben sowohl in Palästina als auch in Israel und unsere
große Besorgnis im Blick auf die Zukunft des Friedensprozesses
für beide Länder. International wird ein Ende der Abriegelung
des Gazastreifens gefordert und die israelische Regierung daran
erinnert, dass die betreffende Genfer Konvention eine derartige
Blockade untersagt. Wir schließen uns von neuem diesen
Forderungen nach Erbarmen und Gerechtigkeit an, heute und so
lange, wie das Leiden fortdauert, in der Überzeugung, dass eine
Zukunft für alle gefunden werden kann und wird.
9. Die Konferenz in Amman wurde
einberufen, um uns in unserer Friedensarbeit anzuspornen, weil
Menschen, die in einer Situation endemischer Ungerechtigkeit
leben, sich nach 60 Jahren Konflikt und Verzweiflung immer noch
nach Frieden sehnen. Der Aufruf von Amman verpflichtet uns,
gemeinsam mit den Kirchen des Heiligen Lands im Nahen Osten „zu
handeln und zu beten, mit einer Stimme zu sprechen, mit Euch
zusammenzuarbeiten und unser Ansehen und Leben aufs Spiel zu
setzen, um mit Euch Brücken für einen dauerhaften Frieden
zwischen den Völkern auf diesem gefolterten und wunderbaren
Stück Erde (...) zu bauen“.
Der Zentralausschuss des
Ökumenischen Rates der Kirchen, der vom 13.-20. Februar 2008 in
Genf, Schweiz, zusammengekommen ist, fasst folgenden Beschluss.
Der Zentralausschuss
-
fordert
gemeinsam mit den Kirchen im Heiligen Land und mit dem Rat
der Kirchen im Mittleren Osten nachdrücklich dazu auf,
die Blockade des Gazastreifens umgehend aufzuheben;
-
ersucht
die Mitgliedskirchen, die israelische Regierung auch
weiterhin an die Notwendigkeit zu erinnern, ihren
internationalen Verpflichtungen als Besatzungsmacht gemäß
den Genfer Konventionen nachzukommen und die Versorgung des
Gazastreifens mit Nahrung, Medikamenten, Brennstoff, Wasser
und grundsätzlichen Dienstleistungen wie Elektrizität und
sanitärer Grundversorgung sicherzustellen;
-
erkennt an,
dass sowohl
in Israel als auch in den besetzten palästinensischen
Gebieten Zivilpersonen angegriffen und getötet werden und
wiederholt seine absolute Verurteilung von Angriffen auf
Zivilisten;
-
beauftragt
die Mitgliedskirchen, darauf zu achten, dass alle Behörden,
die in und über Gaza Kontrolle und Regierungsfunktionen
ausüben, internationale Menschenrechte und humanitäres
Völkerrecht einhalten, und sie zu ermutigen, deren
Anforderungen zu erfüllen;
-
ruft
die
Mitgliedskirchen auf, in der Öffentlichkeit und
gegenüber ihren Regierungen ihre Stimme für die Menschen in
Gaza zu erheben und auf eine Beendigung der Abriegelung und
kollektiven Bestrafung sowie einen ausgehandelten
Waffenstillstand zu drängen;
-
würdigt
das Engagement von Kirchen und kirchlichen Organisationen,
die sich darum bemühen, Dritt-Regierungen wie die
Europäische Union und die Vereinigten Staaten davon
abzuhalten, der Besatzungsmacht finanzielle Unterstützung
für völkerrechtlich rechtswidriges Vorgehen gegen Gaza
zukommen zu lassen; und empfiehlt ferner, dass andere
Kirchen entsprechende Appelle an beteiligte Regierungen
richten;
-
ruft
die
Gemeinschaft der Kirchen im ÖRK auf, für ein Ende des
Leidens in Gaza und für Fortschritte auf dem Weg zu einem
gerechten und dauerhaften Frieden zwischen Palästinensern
und Israelis zu beten;
-
lädt
die Mitgliedskirchen des ÖRK ein, den Aufruf von
Amman (Juni 2007), mit dem das Ökumenische Forum für
Palästina und Israel eröffnet wurde, entgegenzunehmen und zu
bestätigen und sich im Forum zu gemeinsamer Fürsprachearbeit
für den Frieden, einschließlich im Rahmen des Ökumenischen
Begleitprogramms in Palästina und Israel, zu engagieren,
über theologische Positionen im Blick auf den Konflikt zu
diskutieren und sich vom 4.-10. Juni 2008 an einer Globalen
kirchlichen Aktionswoche für Frieden in Palästina und Israel
zu beteiligen.
Originaltext
http://www.oikoumene.org/en/resources/documents/central-committee/geneva-2008/reports-and-documents/public-issues/minute-on-the-humanitarian-situation-in-the-gaza-strip.html
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