Wie das Andenken an die Toten des Holocaust schändlich missbraucht wird
Anmerkungen zu einem brisanten Thema
Arn Strohmeyer - 27.
Am heutigen Holocaustgedenktag stellt sich vor allem die Frage: Wie soll man mit diesem monströsen Verbrechen Holocaust erinnernd umgehen? Der amerikanisch-jüdische Politloge Norman G. Finkelstein hat darauf eine sehr treffende Antwort gegeben: „Die edelste Geste gegenüber jenen, die [im Holocaust] umgekommen sind, besteht darin, ihr Andenken zu bewahren, aus ihren Leiden zu lernen und sie endlich in Frieden ruhen zu lassen.“
Genau das geschieht aber nicht, denn mit dem Erinnern an den Holocaust wird große Politik gemacht – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit und ganz besonders von Israel. Zu kritisieren ist also nicht das ganz selbstverständliche Erinnern, sondern die Erinnerungspolitik, so wie sie von amtlichen Stellen und Regierungen betrieben wird. Gemeint ist also auch nicht das wissenschaftliche Erinnern der Historiker. Da ist in vielen Ländern und wenn auch etwas verspätet in Deutschland sehr Gutes geleistet worden.
Beschäftigt man sich mit Israel und seiner Politik und auch mit dem Erinnern an den Holocaust muss man im Auge behalten, dass Judentum und Zionismus nicht dasselbe sind, dass man beide begrifflich unbedingt voneinander trennen muss. Um es kurz zu sagen: Zionismus ist eine politische Ideologie, die Staatsideologie Israels; Judentum ist eine Kultur im weitesten Sinne, in der die Religion nur ein Teil ist, denn es gibt ja auch areligiöse und atheistische Juden. Um es noch anders zu sagen: Nicht jeder Jude ist Zionist, und nicht jeder Zionist ist Jude. Das vorweg.
Man stellt sich ganz selbstverständlich vor, dass es in Israel und der jüdischen Welt zu dem Thema Holocaust eine große Geschlossenheit gibt, eine vollständige Übereinstimmung im Gedenken an die große Katastrophe des jüdischen Volkes. Diese Einigkeit gibt es aber nicht gibt. Einigkeit besteht natürlich unter Juden über die monströse Schrecklichkeit und Ungeheuerlichkeit dieses Mega-Verbrechens, über den Umgang mit dem Holocaust wird aber erbittert gestritten.
Im Folgenden soll kurz dargestellt werden, wie die Einstellung von Juden bzw. Zionisten zum Holocaust verlaufen ist und wie es zur Auffassung von der Einzigartigkeit des Holocaust gekommen ist. In der britischen Mandatszeit über Palästina, die von 1922 bis 1948, also bis zur israelischen Staatsgründung, andauerte, gab es dort neben den Palästinensern die vorstaatliche jüdische Gesellschaft der eingewanderten Juden – den Jischuw. In diesem Jischuw hat man sich für den Holocaust nur sehr wenig oder auch gar nicht interessiert. Ich beziehe mich bei dieser Aussage auf das Buch Die siebte Million des israelischen Historikers Tom Segev. Die siebte Million sind die Überlebenden des Holocaust, deren Schicksal Segev in dem Buch ausführlich beschreibt.
Der Holocaust in Europa fand in den Zeitungen des Jischuw, wenn überhaupt nur auf den hinteren Seiten statt. Oft waren Sportnachrichten wichtiger als die schrecklichen Nachrichten aus Europa. Dabei lagen exakte Informationen vor, was in den Vernichtungslagern passierte. Auch die politische Führung des Jischuw zeigte kaum Interesse am Holocaust. Der Zionistenführer Ben Gurion betonte immer wieder, dass der Aufbau des jüdischen Staates in Palästina absoluten Vorrang vor allem anderen habe und dass man für die bedrohten Juden in Europa nichts tun könne, das sei Aufgabe der internationalen jüdischen Organisationen. Der jüdische Historiker Saul Friedländer, selbst ein Holocaust-Überlebender, hat Ben Gurion später vorgeworfen, den Holocaust gar nicht verstanden und nichts für die bedrohten Juden in Europa getan zu haben.
Es wäre nun die vorrangige Aufgabe des Staates Israel gewesen, möglichst viele Überlebende aus den Lagern (es handelte sich etwa um 250 000 Menschen – die sogenannten DP’s, Displaced Persons) aufzunehmen und ihnen Gehör und Geborgenheit zu verschaffen und so zur Heilung dieser zutiefst gedemütigten Menschen beizutragen. Das geschah aber nur zum Teil. Das zionistische Establishment in Palästina dachte anders. Der Jischuw hing der Idee und der Vision eines „neuen Menschen“, des „neuen Juden“, an, der ein tatkräftiger und wehrhafter Pionier sein sollte und beim Aufbau des jungen Staates hart mit anpacken konnte. In diesem Ideal steckte viel Kritik am Diaspora-Judentum.
Man warf den Überlebenden vor, feige gewesen zu sein, sich gegen ihre Vernichtung nicht gewehrt zu haben, und dass sie sich eben wie Lämmer hätten zu Schlachtbank führen lassen. Sie hätten alle Warnungen überhört, hätten sich nicht für den Zionismus entschieden und wären nicht nach Palästina gekommen, um den neuen Staat mit aufzubauen. Dann wäre der Holocaust nicht passiert. Zionistische Agenten selektierten sogar in den DP-Lagern die Menschen, die nach Palästina kommen sollten. Alte und Kranke sowie „moralisch minderwertige Elemente“ wollte man nicht haben.
Nach 1945 und bis weit in die 1950er Jahre hinein wurde der Holocaust dann im Jischuw und später im Staat Israel mehr oder weniger verschwiegen. Er war fast so etwas wie ein Tabu. Die Geschehnisse des furchtbaren Genozids waren offenbar noch zu nah, um überhaupt erinnernd verstanden zu werden. Es gab zwar einen Holocaust-Gedenktag, aber noch keine Kultur des Gedenkens.
Das Schweigen hing natürlich auch mit der Verachtung der Überlebenden zusammen, also der Diaspora-Juden. Die eingesessenen Juden des Jischuw schwiegen also, ja, sie leugneten den Holocaust fast, weil die Verachtung der Überlebenden natürlich viel Scham und viele Schuldgefühle enthielt. Und die Überlebenden selbst konnten wegen des zutiefst Abgründigen und Unbegreiflichen, das sie erlebt hatten, nicht über darüber sprechen.
Vor allem der Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem brachte für Israel die Wende und eine neue Sicht auf den Holocaust. Nach Jahren des Schweigens über den Genozid hielt Ministerpräsident Ben Gurion die Zeit für gekommen, ein neues Narrativ über den Mord an den europäischen Juden zu schaffen. Er spielte dann auch die Hauptrolle in dem Geschehen um den Prozess.
Ben Gurion wollte aus aktuellen Gründen einen großen Schauprozess inszenieren, der zu einer Veränderung der Erinnerung an den Holocaust in Israel und der Welt beitragen sollte. Für ihn ging es deshalb bei der Gerichtsverhandlung gar nicht in erster Linie um den Menschen Eichmann und seine Taten, sondern darum, dass der Holocaust als Ganzes zur Sprache kommen würde. Ben Gurion verfolgte dabei zwei Hauptziele: Erstens wollte er die Länder der Welt daran erinnern, dass der Holocaust sie verpflichte, den einzigen jüdischen Staat zu unterstützen, und zweitens wollte er den Israelis, insbesondere der jüngeren Generation, eindrücklich vorführen, was sie aus dem Holocaust lernen sollten.
Die jungen jüdischen Israelis sollten sich bewusstwerden, dass sie einem starken und mächtigen Staat angehörten, der es unmöglich machte, dass sich Juden noch einmal wie Lämmer zur Schlachtbank führen ließen. Der Prozess sollte sie mit Nationalstolz erfüllen. Er war von Ben Gurion also geradezu als pädagogisches Projekt geplant.
Ben Gurion wollte vor allem auch mit dem Prozess die Einzigartigkeit des Holocaust belegen. Er, der sich früher, als der Holocaust stattfand, dafür kaum interessierte, bezeichnete den Genozid nun als „beispiellos in der Geschichte“ und machte auch die Diaspora-Juden dafür verantwortlich, weil sie nicht „in ihrem eigenen Land“ [Erez Israel] leben wollten.
Der Eichmann-Prozess war also als Propaganda-Lehrstück geplant und wurde auch so durchgeführt. Erinnern sollte in Israel fortan eine Verpflichtung werden und im Dienst der Politik stattfinden. Die Opfer des Holocaust wurden nun zu den „potentiellen Erbauern und Verteidigern“ des Staates gemacht – aus ihrer Asche sei er hervorgegangen. Es wurde durch den Prozess also eine Holocaust-Ideologie geschaffen, was aber auch den Beginn der zionistischen Instrumentalisierung dieses Mega-Verbrechens bedeutete.
Die Zionisierung des Holocausts und seines Gedenkens
Der Eichmann-Prozess hatte auf der einen Seite national-pädagogische Absichten verfolgt, auf der anderen Seite leitete er die Zionisierung des Holocaust ein. Das bedeutete aber auch die Absage an eine universalistische Sicht des Genozids. Das zionistische Israel benutzte und vereinnahmte den Holocaust von nun an so gut wie ausschließlich für das Erreichen seiner partikularen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen und Ziele. Der Massenmord an den europäischen Juden wurde nicht nur als das überzeugende Argument für die Lösung der „jüdischen Frage“ durch den Zionismus angesehen, sondern die Gründung des Staates Israel wurde nun als Antwort der Juden auf die ihnen widerfahrende Katastrophe verstanden.
Der zionistische Staat sorgte nun dafür, dass der Holocaust das gesamte Leben in Israel bestimmte und auch heute noch weitgehend bestimmt, er spielt bei jeder politischen oder militärischen Entscheidung bzw. deren Ablehnung oder Verweigerung eine wichtige Rolle. Die Folgen sind gravierend, denn „dadurch war Auschwitz nicht länger ein der Vergangenheit zugehöriges Ereignis, sondern vielmehr eine bedrohliche Gegenwart und ständige Option.“ mehr >>>
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