Mauerdurchbruch
Samah Jabr in Palestine Times März
2008
Es gibt zwei
bemerkenswerte Beispiele in der Menschheitsgeschichte über Mauerbau und
Mauerfall: der Fall der Großen Mauer in China, die 215 v.Chr. gebaut
wurde. Sie erinnert an die über die hügelige Gegend einfallenden Horden
aus dem Norden, die den 1400 Meilen langen Bau nötig machten. Und sie
erinnert an die Berliner Mauer in unserer Zeit, die 1989 eingerissen
wurde und das Nahen der Globalisierung signalisiert.
Und hoffentlich
wird eines Tages die von Israel erbaute Apartheidmauer ein drittes
Beispiel sein.
Die Mauer von
Israel geht auf einen Plan von Vladimir Jabotinsky im letzten
Jahrhundert zurück. Er ist der Vater des zionistisch revisionistischen
Vermächtnisses. Die von Jabotinky vorgeschlagenen Ideale, die von der
israelischen Regierung bewahrt wurden, sind so alt wie gewalttätig und
ausschließend wie jede Manifestation des Wunsches, den „anderen“
draußen, auf der anderen Seite der Mauer zu halten – ob das nun in einem
Slum, einem Reservat oder einem Konzentrationslager ist. Jabotinskys
Artikel „Die eiserne Mauer, wir und die Araber“ erschien das erste Mal
am 4. November 1923 im Magazin Rasswyet. Jabotinsky schrieb u.a.: „ Ein
einheimisches Volk – egal ob es zivilisiert oder unkultiviert ist –
sieht sein Land als seine nationale Heimat an, über die es immer und
vollkommen bestimmen will. Es wird nicht freiwillig erlauben, dass
jemand anderes darüber bestimmt, auch nicht als Partner. Und so wird es
mit den Arabern sein.
Leute aus
unserer Mitte, die einen Kompromiss eingehen wollen, versuchen, uns zu
überzeugen, dass die Araber Toren seien, die durch eine vorsichtige
Formulierung unserer Ziele ausgetrickst werden könnten, oder dass sie
ein Volk seien, denen es nur ums Geld geht und die ihr Geburtsrecht auf
Palästina aus kulturellen und wirtschaftlichen Gründen aufgeben. Ich
weise diese Beurteilung der palästinensischen Araber rundweg ab … sie
sehen auf Palästina mit derselben instinktiven Liebe und wahren
Leidenschaftlichkeit wie jeder Azteke auf sein Mexiko schaut und jeder
Sioux auf seine Prärie … diese kindische Phantasie unserer Arabophilen
kommt aus einer Art Verachtung gegenüber dem arabischen Volk, von einer
Art unbegründeter Vorstellung dieser Rasse als ein Haufen, der bereit
ist, bestochen zu werden, um sein Land für ein Bahnnetzwerk zu
verkaufen.“ Er fuhr fort: Zionistische Kolonisierung, selbst die
eingeschränkteste muss entweder unterbrochen oder gegen den Willen der
einheimischen Bevölkerung durchgeführt werden. Diese Kolonisierung kann
nur unter dem Schutz einer Macht fortgesetzt und entwickelt werden, die
unabhängig von der einheimischen Bevölkerung ist – einer eisernen Mauer,
die die einheimische Bevölkerung nicht durchbrechen kann … all dies
bedeutet nicht, dass es nicht doch zu irgend einem Abkommen kommen wird.
Nur ein freiwilliges Abkommen ist unmöglich. So lange es einen
Hoffnungsschimmer dafür gibt, dass man uns los werden kann, werden sie
diese Hoffnung nicht aufgeben … sie sind eben kein Pöbel, sondern ein
Volk, vielleicht ein wenig angeschlagen, aber lebendig. Ein lebendiges
Volk macht solche enormen Konzessionen gegenüber solch
schicksalsschweren Fragen nur, wenn es keine Hoffnung mehr hat … der
einzige Weg zu einem Abkommen ist die eiserne Mauer … eine Regierung
ohne irgendeinen arabischen Einfluss. Mit andern Worten: für uns gibt es
nur einen Weg zu einem zukünftigen Abkommen: jeden Versuch eines
Abkommens jetzt absolut zu verweigern.“
Diese inzwischen
bekannte Philosophie ist von Jabotinsky auf mehrere israelische Führer
und Politiker übergegangen. Diejenigen, die in Palästina leben, haben
dies gesehen, ungeachtet wie offen uns gegenüber eine israelische
Regierung zu sein vorgab – die Jabotinky-Strategie bleibt die interne
Parteilinie.
Israel nahm die
Gelegenheit des ersten Golfkrieges und die irakischen Drohungen,
israelische Gebiete zu bombardieren, die sehr nah an unsern Städten und
Dörfern lagen, wahr (?) Von Checkpoints zu Erdwällen, die die Straßen
völlig ruinieren, von Gräben, die unsere Städte umgeben, scheint die
israelische Regierung sich entschlossen zu haben, alle Palästinenser
unter Dorf-Hausarrest zu stellen.
Im April 2001
wurde ein großes eisernes Tor in dem knappen Raum errichtet, das die
Westbankstadt Jenin von durch Israel konfisziertes Land auf der einen
Seite und der palästinensischen Stadt Qabatiye auf der andern Seite
trennte. Das Jenintor war die erste Konstruktion dieser Art, die auf
palästinensischem Land errichtet wurde. Es war allerdings nicht das
erste von Israel gebaute Tor. Das Jenintor äffte das riesige Eisentor
nach, das den Südlibanon von Land trennt, das zu Palästina gehört, nun
aber eine israelische Farm ist.
Nicht lange
danach – im Juni 2002 – fing Israel damit an, den historisch
berüchtigten Mauern seine eigene hinzuzufügen: die Zionisten, die rund
um mich leben, übernahmen Jabotinskys metaphorische Idee – die eiserne
Mauer- und machten sie zur Realität.: eine vielschichtige Mauer aus 8m
hohen Betonstreifen, aus Gräben, Stacheldraht-Pufferzonen, elektrischem
Zaun, vielen Wachtürmen, Wärme empfindlichen Kameras, Türmen für
Scharfschützen und Wege für Patrouillenfahrzeuge. Sie soll sich über
790km erstrecken, 80% davon auf von Israelis konfisziertem
palästinensischem Land in der Westbank. So wird das fruchtbarste
palästinensische Land und natürliche Quellen und Ressourcen gestohlen
und 70% des Gebietes, das zum westlichen Aquifer-Basin gehört von Israel
annektiert, zusammen mit 62 Quellen und 134 palästinensischen Brunnen.
So werden 60 500 Palästinenser in 42 Dörfern und Städten in eine
geschlossene militärische Zone zwischen der Grünen Grenzlinie und der
Mauer eingeschlossen; 12 Dörfer mit einer Bevölkerung von 31400
Palästinenser werden vollkommen von der Mauer umgeben sein, wie z.B.
Qalqilia.
Die Mauer hat
schwere wirtschaftliche und humanitäre Folgen und blockiert den
Horizont für einen zukünftigen souveränen palästinensischen Staat. die
Palästinenser sind von ihrem landwirtschaftlich genutzten Land und ihrem
Lebensunterhalt, ihren Arbeitsplätzen, Schulen, Universitäten, ihrem
sozialen System und den Gesundheitsdiensten abgeschnitten. Frauen sind
weiterhin oft dazu gezwungen, an den Kontrollpunkten zu entbinden. Die
Neugeborenen sterben als Folge davon, da ihnen der Zugang zu
(Not-)kliniken verwehrt wird.
Trotz eines
Rechtsgutachtens vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag vom 9.Juli
2004, das anerkannt hatte, dass der Bau der Mauer im „Widerspruch zum
Völkerrecht“ steht und dass Israel verpflichtet ist, den Bau der Mauer
zu stoppen und den schon bestehenden Teil abzureißen und
Wiedergutmachung denen zu gewähren, denen Schaden zugefügt wurde, fuhr
Israel mit dem Mauerbau fort.
Die
Friedensgespräche, die in Annapolis Ende 2007 stattfanden, unterließen
es auch, über die Mauer mindestens von einem Hindernis für den Frieden
zu sprechen. Die Mauer wird als eine vollendete Tatsache angesehen, und
von mir und meiner Familie und meinen Nachbarn und Landsleuten wird
erwartet, dass wir den Preis der revisionistischen Tradition und
Ideologie der Mauer bezahlen, die die Menschlichkeit für immer verrät.
Statt Israel für
seine illegale Mauer zu boykottieren, unterstützt die internationale
Gemeinschaft die Ideologie der Mauer, indem sie die demokratisch
gewählte palästinensische Regierung boykottiert und in die Belagerung
des Gazastreifens einwilligt. Ich verstehe, dass die zionistische Mauer
schon lange, bevor ich geboren wurde, in den Köpfen der Weltpolitiker
gebaut wurde, damals als die Regierenden der Welt auf die Botschaft der
Nürnberger Prozesse reagierten und sagten: „Das leidende jüdische Volk
braucht einen Ort, den es Heimat nennen kann, selbst wenn dies die
Vertreibung und die Unterwerfung eines anderen Volkes verursacht.“
Gaza blieb
besetzt, trotz des Abzugs der israelischen Siedler im Sommer 2005 ;
Israel kontrolliert eine Armee von Kollaborateuren innerhalb des
Gazastreifens und bleibt eine Macht, die alle Grenzen, die
Grenzübergänge, den Luftraum, die Küstengewässer, die Wirtschaft und den
Strom kontrolliert.
Israel hielt
seit Januar 2006 1,5 Millionen Palästinenser in einer Art Gefängnis
fest. Diese Absperrung wurde im Juni 2007 noch verschärft, da Israel den
Zugang in und vom eingemauerten Gazastreifen völlig abgeschnitten hat,
was eine wachsende humanitäre Krise hervorrief. Das Morden nahm zu, und
die lebensnotwendigen Lieferungen von Brennstoff, Lebensmitteln und
Medikamenten wurde unterbrochen. Israel war sich auch nicht zu gut dazu,
dem besetzten Volk das Wasser und den Strom abzustellen. Wir sahen
Leute, die im Krankenhaus ihren Angehörigen mit der Hand, Luft
zufächelten und hörten, wie sich Kinder beklagten, sie könnten nicht in
den kalten und dunklen Nächten des Gazastreifens lernen. Aber es liegt
außerhalb von Gaza, dass man das Licht der Gerechtigkeit aus den Augen
verliert und so der Dunkelheit gestattet, den Gazastreifen zu
überwältigen.
Der Durchbruch
der von Israel erbauten Mauer zwischen dem Gazastreifen und Ägypten war
ein großes Ereignis aus humanitären und politischen Gründen. Dem
hungernden Volk des Gazastreifens gelang es, eine vorläufige
Erleichterung zu schaffen und einige Vorräte anzuschaffen, die ihm
hilft, ihre Standhaftigkeit angesichts der brutalen Belagerung zu
halten; die Massenteilnahme am „grenzenlosen“ Übergang hat der sozialen
und politischen Mobilisierung nicht nur in Palästina, sondern auch in
Ägypten und anderen arabischen Ländern einen großen Auftrieb gegeben.
Die Stärke der Beteiligung ganz normaler Menschen zeigte das Potential,
um auf nationaler Ebene eine Art allgemeine Widerstandsbewegung wieder
aufzubauen, wie sie die erste palästinensische Intifada
charakterisierte.
So sehr es auch
ein Triumph für das hungernde Volk auf beiden Seiten der Gazagrenze war,
so war es eine Schande für die Behörden, die denjenigen Palästinensern
die Beine brechen wollten, wenn sie noch einmal wagten, die Grenze zu
überschreiten. Verschiedene Propagandamethoden wurden verbreitet, um das
große populäre Ereignis madig zu machen: „Die Gazaer fliehen vor dem
unterdrückerischen und extremen Regime in Gaza, das der Bevölkerung eine
Islamisierung aufzwingt;“ „Die Palästinenser nehmen die Gelegenheit
wahr, um endlich nach Ägypten auszuwandern … „ ist nur etwas der
unbegründeten Propaganda. Das kurze Gedächtnis der Welt vergaß, wie sehr
die Gazaer Pilger darum baten, in den Gazastreifen wieder eingelassen zu
werden – nur wenige Wochen vor dem Durchbruch der Mauer.
Würde Jabotinsky
heute noch leben, wäre er enttäuscht. Er hatte zum Teil sogar recht:
die Palästinenser sind keine lärmende Menge oder ein Pöbel, sondern ein
lebendiges Volk. Und ein lebendiges Volk wird nur dann bereit sein,
solch schicksalhaften Fragen nachzugeben, wenn es alle Hoffnung
aufgegeben hat, die Besatzung los zu werden. Doch Jabotinsky und seine
Nachfolger konnten sich nicht vorstellen, dass die Palästinenser ihre
monströse Apartheidmauer durchbrechen konnten. Der Mauerdurchbruch und
die Symbolik der kollektiven allgemeinen Missachtung und das
Zurückverlangen der menschlichen und sozialen Rechte geben uns einen
Schimmer Hoffnung, dass es uns gelingen wird, die Besatzung loszuwerden.
Nichts in der Welt kann die Palästinenser dahin bringen, diese Hoffnung
aufzugeben.
(dt. Ellen Rohlfs)
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