Das
Massaker von Hebron – 25. Februar 1994
20 Jahre danach
Felicia Langer
«Vor mir
liegt eine schwarzumrandete Namensliste von 29 Personen. Es sind die
Opfer des Massakers in der Haram-al-Ibrahimi-Moschee beziehungsweise
der Machpela-Höhle in Hebron im Westjordanland. Ihnen widme ich
dieses Buch. Sie wurden am Freitag, dem 25. Februar 1994, am 15. Tag
des Ramadan im Jahr der Hedschra 1414, am frühen Morgen massakriert,
als sie betend in Richtung Mekka niedergekniet waren. Ihre Namen und
einige Angaben zu ihrer Person sind im Anhang dieses Buches zu
finden.
Der Ort,
an dem das Verbrechen verübt wurde, gilt jüdischen, christlichen und
muslimischen Überlieferungen zufolge als Grabstätte von Abraham und
Sarah, Isaak und Rivka, Jakob und Lea und ist daher allen drei
Religionen heilig.»
So habe
ich das Buch über das Hebron-Massaker angefangen, im Jahre 1994,
unter dem Titel „Wo Haß keine Grenzen kennt.“
Heute, 20
Jahre danach möchte ich an dieses schreckliche Verbrechen erinnern.
Unter den
Toten waren auch Kinder im Alter von zehn, elf, zwölf und dreizehn
Jahren. Der jüngste, Mohammad Maraqa war zehn Jahre alt.
Ich habe
Hebron im Oktober 1994 besucht, um das Massaker zu recherchieren.
Mohammad Maraqa, «ein zehnjähriger Schüler, das jüngste Opfer und
eines von fünf Kindern, wurde mit drei Schüssen in Kopf, Hals und
Schulter getötet. Sein Vater, der zweimal durch Schüsse in die Hand
verwundet wurde, trug ihn aus der Moschee. Der neunjährige Nidal,
Mohammads Bruder, berichtet dazu folgendes:
„Ich ging
mit meinen Eltern und zwei Brüdern zur Ibrahimi-Moschee. Ich betete
in der vorletzten Reihe, meine Brüder Mohammad Kifah war aber in der
letzten Reihe und mein Vater ein, zwei Reihen vor uns. Das Schießen
begann, und ich beobachtete wie mein Vater an einer Hand verletzt
wurde. Als er sah, daß mein Bruder verletzt war, ging er zu ihm und
trug ihn weg.
Er brachte
meinen Bruder zum Mohammad-Ali-Muhtaseb-Krankenhaus. Mein anderer
Bruder und ich verließen barfuß die Moschee und gingen meiner
Familie und den Onkeln Bescheid sagen, was passiert war, damit sie
meine Mutter von der Moschee abholen konnten. Wir fuhren in einem
Privatauto dorthin.
Ich
erinnere mich, daß ich zu Boden fiel, als das Schießen losging, Dann
schaute ich mich aber um und sah, daß ein langbärtiger Soldat auf
die Gläubigen schoß. Hinter ihm standen drei Siedler nicht weit vom
Tor, nahe bei der Höhle. Auch sie schossen. Als wir gerade durch das
Josefstor die Moschee verlassen wollten, hörte ich, wie eine Frau
einen Soldaten anschrie, sie sollten doch keine Araber töten. Er
antwortete ihr: ,Ihr Araber tötet uns Juden!‘“
Ich habe
auch diese leidgeprüfte Familie im Oktober 1994 in Hebron besucht.
Ich lernte die Brüder des Ermordeten kennen und sprach mit dem
kleinen Nidal, der obige Zeugenaussage machte. Er bestätigte sie
nochmals und fügte hinzu, er hätte bei mehreren Gelegenheiten
ausgesagt, daß er außer Goldstein zwei Soldaten schießen sah.
Die Mutter
des ermordeten Kindes hielt tapfer ihre Tränen zurück. Sie gestand
mir aber, daß der Schmerz über diesen Verlust so tief sei, daß ihr
Gram nicht enden wolle. Nidal berichtete mir noch, er hätte gesehen,
wie sein Bruder am Boden lag und wie Blut aus seinem Kopf strömte.
Er hätte ihn aufheben wollen und mit lauter Stimme angesprochen,
doch er hätte ihm keine Antwort mehr gegeben.»
Eine Frau,
deren Mann ermordet worden war (Familie Saber) «erzählte mir, daß
sie am Tag vor meinem Besuch mit ihren Kindern in die Altstadt
gegangen sei. Siedler hätten sie dort verflucht, angespuckt, und
geschrien, daß es noch mehr Goldsteins geben werde. Der Bruder des
Ermordeten zeigte mir eine vernarbte Wunde an seinem Kopf, das Mal
einer Verletzung durch einen Siedler. Salwa Dana, Mais Schwester,
berichtete, daß ihre Familie wegen der ständigen Angriffe der
Siedler aus der Altstadt hierher zu ihrer Schwester ziehen mußte.»
In „Nach
Goldstein kein Ende“ schrieb ich:
«Nur
wenige Stunde nach dem Massaker mußten weitere Menschen sterben: Die
Zahl der Opfer stieg auf 34. Drei von ihnen wurden in der Nähe des
Ahli-Krankenhauses in Hebron getötet, zwei weitere an anderen Orten.
Heuchlerisch rief Rabin zur Zurückhaltung auf, während die Armee
unter seiner politischen – und ministeriellen – Verantwortung als
Verteidigungsminister damit beschäftigt war, Demonstranten zu töten,
Menschen, die ihren berechtigten Zorn nach dem Massaker ausdrücken
wollten und zur Blutspende für die Opfer gekommen waren.
In all den
Besatzungsjahren ist es Usus der Armee gewesen, jene zu verwunden
und zu töten, die gegen die Verbrechen der Besatzer demonstrierten
und dagegen, daß wieder einmal Unschuldige ihr Leben lassen mußten.
So war es nach dem Massaker an der Al-Aksa-Moschee und bei ähnlichen
Vorkommnissen in Gaza, Rafah und anderswo – überall wurde auch noch
das Blut von Trauernden vergossen.
Der
hochbetate Religionswissenschaftler Professor Jesaja Leibowitz nahm,
wie das so seine kritische Art ist, am 2. März 1994 in der Zeitung
Yediot Achronot
kein Blatt vor den Mund: „Damit es jedem klar ist: Wer sich
nicht
weigert, Militärdienst in den besetzten Gebieten zu leisten, ist ein
Freund Goldsteins und Kompagnon des Verbrechens. Mit seiner Tat
repräsentiert Goldstein das Volk. Er ist der Vertreter des Volkes
und der Regierung, und der Schuldige ist Rabin.“
Voller
Zorn und ähnlich deutlich sprach Leibowitz Ende März 1994 in der
Zeitung
Maariv,
der er zusammen mit Shimon Peres ein Interview gab.
In diesem
Kapitel will ich das Thema anhand der vergangenen und gegenwärtigen
Lage untersuchen.
Der Mörder
kam von seinem haus in Kiryat Arba zum Ort des Verbrechens, aus
einer nahegelegenen Stadt, einer jüdischen Siedlung, die sich
„Mutter der Siedlungen“ nennt. Sie wurde während der Regierungszeit
der Arbeiterpartei mit deren Billigung und Segen in den Jahren 1968
bis 1970 gegeründet. Ich war Zeugin der Entstehung von Kiryat Arba,
Zeugin dieses Anfangs der jüdischen Besiedlung der Westbank.»
Journalist
Daniel Ben Simon schrieb am 27. Februar in seinem Arikel „Kahane
chai“ (Kahane lebt) folgendes *):
«Der
Charakter von Kiryt Arba offenbarte sich am besten an dem Tag (es
war vor etwa drei Jahren), an dem seine Bewohner in Massen nach
Jerusalem strömten, um Kahanes Begräbnis beizuwohnen. Sie
vermittelten den Eindruck, als seien Tausende Waisen
zusammengekommen, um ihrem geliebten Vater Lebewohl zu sagen. Ein
ausländischer Journalist, den ich damals zufällig begleitete, war
unangenehm berührt, wie sehr sie in Aussehen und Benehmen denjenigen
ähnelten, die Khomeinis Sarg in Teheran gefolgt waren. Kiryat Arbas
Kahanisten, die hysterisch ihre Slogans in einem schlechten
Hebräisch mit amerikanischem Akzent brüllten, hatten dasselbe
fanatische Gebaren. Ich erinnere mich auch, daß dort französische
Journalisten einen soeben aus Frankreich eingetroffenen Kahanisten
fragten, warum er denn einer Partei von Ignoranten beigetreten sei.
Er antwortete: „Wir sind doch nicht alle Ignoranten! Es gibt
gebildete Leute unter uns, auch Doktoren. Sehen Sie dort den Mann
mit den Tränen in den Augen? Er ist zum Beispiel ein Doktor. Er
heißt Dr. Goldstein. Und er bewundert Kahane über alles.“
Wir
schauten alle auf den Doktor, der eine große weiße Kippa auf dem
Kopf trug und leise betend direkt neben dem Grabmal stand. Doch dann
brüllte er auf einmal mit unvorstellbarer Lautstärke: „Tod den
Arabern!“ Alle haßerfüllten Fanatiker, die um ihn herumstanden,
schrien nun echoartig wie Chorknaben: „Tod den Arabern!“ Am letzten
Freitag hat Goldstein nichts anderes getan, als seine Gebete in die
Tat umzusetzen.»
In einem
Aufruf, der von „Friedensblock“ und dem „Solidaritätskomitee Hebron“
herausgegeben wurde, stand:
«Das mußte
so kommen! Siedler übten viele Monate eine Schreckensherrschaft über
die Bewohner Hebrons aus, während die Soldaten dabeistanden und die
Regierung ihre Zustimmung dazu gab.»
Auch viele
Jahre nach dem Massaker leben zahlreiche Palästinenser unter dem
Terror der Siedler, die straffrei ihre Hassaktionen gegen sie
betreiben, insbesondere in Hebron. Aber die Welt fängt an,
allmählich zu begreifen, was für eine zerstörerische Kraft sich in
dieser völkerrechtswidrigen Siedlungsbewegung befindet! Das fast
absolute Schweigen der Welt ist gebrochen.
Die
politischen Erben von Kahane und Goldstein haben keine Zukunft!
———
*) Meir
Kahane ist der Gründer der rechtsextremistischen KACH-Bewegung, die
in Israel verboten wurde. Kahane wurde am 5. November 1990 ermordet.
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