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Warum wir in Israels Gefängnissen im Hungerstreik
sind
Marwan Barghouti*
16. April 2017
Hadarim-Gefängnis, Israel - Nachdem ich seit 15 Jahren in einem
israelischen Gefängnis sitze, bin ich sowohl Zeuge als auch Opfer
des illegalen israelischen Systems willkürlicher Massenverhaftungen
und Misshandlungen palästinensischer Gefangener. Nachdem alle
Alternativen erfolglos waren, kam ich zu dem Schluss, dass es, um
diesen Missständen Widerstand entgegenzusetzen, keine andere Wahl
gibt, als in den Hungerstreik zu treten.
Ungefähr 1000 palästinensische Gefangene haben sich entschlossen,
an diesem Hungerstreik teilzunehmen, der heute am „Tag der
Gefangenen” beginnt. Hungerstreik ist die friedlichste Form des
möglichen Widerstands. Er fügt nur denen Schmerz zu, die sich daran
beteiligen sowie ihren Liebsten, in der Hoffnung, dass ihre leeren
Mägen und ihr Opfer dabei behilflich sind, die Botschaft über die
Grenzen ihrer dunklen Zellen hinaus widerhallen zu lassen.
Jahrzehnte der Erfahrung haben bewiesen, dass Israels unmenschliches
System der kolonialen und militärischen Besatzung zum Ziel hat, den
Geist der Gefangenen und des Volkes, dem sie angehören, zu brechen,
indem es ihnen körperliches Leid zufügt, sie von ihren Familien und
ihren Gemeinden trennt, demütigende Maßnahmen ergreift, um sie zur
Unterwerfung zu zwingen. Wir werden - dieser Behandlung zum Trotz -
nicht aufgeben.
Die Besatzungsmacht Israel verletzt das Völkerrecht seit nahezu 70
Jahren in vielfältiger Weise und bleibt für seine Handlungen
dennoch straflos. Sie hat gegen das palästinensische Volk schwere
Verletzungen der Genfer Konventionen begangen; die Gefangenen,
einschließlich Männer, Frauen und Kinder, sind da keine Ausnahme.
Ich war gerade 15, als ich das erste Mal ins Gefängnis kam. Ich war
kaum 18, als ein israelischer Vernehmungsbeamter mich zwang, die
Beine zu spreizen, als ich nackt im Verhörraum stand, bevor er auf
meine Genitalien einschlug. Ich fiel vor Schmerzen in Ohnmacht, und
der Sturz hinterließ eine bleibende Narbe auf meiner Stirn. Der
Vernehmungssoldat machte sich dann lustig über mich und meinte, ich
könne mich nun nicht mehr fortpflanzen, weil Leute wie ich ohnehin
nur Terroristen und Mörder zeugen würden.
Ein paar Jahre später saß ich wieder in einem israelischen Gefängnis
und führte einen Hungerstreik an, als mein erster Sohn auf die Welt
kam. Anstelle der Süßigkeiten, die wir normalerweise verteilen, um
solche Anlässe zu feiern, übergab ich den anderen Gefangenen Salz.
Als mein Sohn kaum 18 war, wurde er seinerseits verhaftet und saß
vier Jahre in israelischen Gefängnissen.
Das älteste meiner vier Kinder ist jetzt ein Mann von 31 Jahren.
Doch ich bin immer noch hier und führe diesen Kampf um Freiheit mit
Tausenden von Gefangenen, Millionen von Palästinensern und mit der
Unterstützung so vieler Menschen in aller Welt. Was hat es mit der
Arroganz der Besatzer und Unterdrücker und ihrer Unterstützer für
eine Bewandtnis, die sie taub werden lässt für diese einfache
Wahrheit: Unsere Ketten werden zerbrochen sein, bevor wir es sind,
weil es zur menschlichen Natur gehört, dem Ruf nach Freiheit ohne
Rücksicht auf die Kosten zu folgen.
Israel hat fast alle seine Gefängnisse innerhalb Israels anstatt in
den besetzten Gebieten errichtet. Damit hat es palästinensische
Zivilisten illegal und zwangsweise in die Gefangenschaft verbracht
und diese Situation ausgenutzt, um Besuche von Familienangehörigen
einzuschränken und durch lange Transportwege unter grausamen
Bedingungen den Gefangenen Leid zuzufügen. Es hat Grundrechte, die
gemäß dem Völkerrecht garantiert sein sollten – einschließlich
solcher, die infolge früherer Hungerstreiks schmerzhaft erkämpft
worden waren -, in Privilegien verkehrt, die die
Strafvollzugsbehörden nach Gutdünken bewilligen oder entziehen.
Palästinensische Gefangene und Häftlinge leiden unter Folter,
unmenschlicher und entwürdigender Behandlung und medizinischer
Vernachlässigung. Einige sind während der Haft getötet worden. Nach
der letzten Zählung der Palästinensischen Gefangenen-Vereinigung
sind seit 1967 etwa 200 palästinensische Gefangene aufgrund solcher
Behandlung gestorben. Die palästinensischen Gefangenen und ihre
Familien bleiben auch ein vorrangiges Ziel von Israels Politik der
kollektiven Bestrafung.
Durch unseren Hungerstreik versuchen wir, derartigen Misshandlungen
ein Ende zu bereiten.
Während der letzten fünf Jahrzehnte sind laut der
Menschenrechtsgruppe Addamer mehr als 800000 Palästinenser in
Gefangenschaft gewesen oder festgenommen worden – das entspricht
etwa 40% der männlichen palästinensischen Bevölkerung. Heute sind
immer noch ungefähr 6500 inhaftiert, unter ihnen einige, die über
die triste Auszeichnung verfügen, Weltrekordhalter der längsten
Haftzeit von politischen Gefangenen zu sein. Es gibt kaum eine
Familie in Palästina, die nicht gelitten hat durch die Einkerkerung
eines oder mehrerer ihrer Mitglieder.
Wie lässt sich dieser unglaubliche Zustand erklären?
Israel weist ein duales Rechtssystem auf, eine Art juristischer
Apartheid, die faktisch Straflosigkeit für Israelis sichert, die
Verbrechen gegen Palästinenser begehen, während deren Präsenz und
Widerstand kriminalisiert werden. Israels Gerichte sind eine
Karikatur der Justiz, ganz eindeutig Instrumente der kolonialen,
militärischen Besatzung. Gemäß dem [israelischen] Außenministerium
liegt die Verurteilungsrate für Palästinenser vor Militärgerichten
bei annähernd 90 %.
Unter den Hunderttausenden von Palästinensern, die Israel festnahm,
befinden sich Kinder, Frauen, Parlamentarier, Aktivisten,
Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Akademiker, Politiker,
Militante, Zuschauer, Familienmitglieder von Gefangenen. Und all
dies mit einem Ziel: die legitimen Bestrebungen einer ganze Nation
zu ersticken.
Allerdings sind Israels Gefängnisse stattdessen die Wiege einer
andauernden Bewegung für die palästinensische Selbstbestimmung
geworden. Dieser neue Hungerstreik wird noch einmal demonstrieren,
dass die Gefangenen-Bewegung der Kompass ist, der unsern Kampf
leitet, den Kampf für „Freiheit und Würde“, der Name, den wir für
diese neue Etappe auf unserem langen Weg zur Freiheit gewählt haben.
Die israelischen Behörden und ihr Strafvollzug haben Grundrechte,
die nach dem Völkerrecht garantiert sind – einschließlich der durch
frühere Hungerstreiks schmerzhaft errungenen - in Privilegien
verwandelt, die uns nach Gutdünken gewährt oder verwehrt werden.
Israel hat versucht, uns alle als Terroristen zu brandmarken, um
seine Gewaltmaßnahmen zu legitimieren, einschließlich willkürlicher
Massenverhaftungen, Folter, Strafmaßnahmen und schwerer
Einschränkungen. Als Teil israelischer Bemühungen, den
palästinensischen Kampf um Freiheit zu unterminieren, verurteilte
ein israelisches Gericht mich zu fünf Mal lebenslänglich plus 40
Jahre in einem politischen Schauprozess, der von internationalen
Beobachtern verurteilt wurde.
Israel ist nicht die erste Besatzungs- und Kolonialmacht, die zu
solchen Methoden Zuflucht sucht. Jede nationale Befreiungsbewegung
der Geschichte kann sich an solche und ähnliche Praktiken erinnern.
Das ist der Grund, warum so viele, die gegen Unterdrückung,
Kolonialismus und Apartheid kämpfen, an unserer Seite stehen. Die „Internationale
Kampagne zur Befreiung Marwan Barghoutis und aller palästinensischen
Gefangenen”, die Achmed Kathrada, die Galionsfigur der
Anti-Apartheid-Bewegung, und meine Frau Fadwa 2013 - in Nelson
Mandelas früherer Gefängniszelle auf Robben Island - ins Leben
riefen, hat die Unterstützung von 8 Nobelpreisträgern, 120
Regierungen und Hunderten von Führern, Parlamentariern, Künstlern,
Akademikern aus aller Welt erhalten.
Ihre Solidarität stellt Israels moralisches und politisches
Scheitern bloß. Rechte werden nicht von einem Unterdrücker gewährt.
Freiheit und Würde sind universelle Rechte, die der Menschheit von
Natur aus eigen sind, derer sich alle Nationen und alle Menschen
erfreuen sollen. Die Palästinenser werden keine Ausnahme sein. Nur
das Ende der Besatzung wird die Ungerechtigkeit beenden und zum
Frieden führen.
Quelle
*Marwan Barghouti ist ein palästinensischer Politiker und
Parlamentarier.
Die englische
Version dieses Artikels erschien in der Printausgabe der „International
New York Times“ am 17. April 2017 auf Seite 1.
(Übersetzung: Jürgen Jung)
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