Obeidullah El-Mogaddedi
-Praktischer Arzt und Chirurg-
Bundeskanzleramt
Bundeskanzlerin Angela Merkel
Willy-Brandt-Straße 1
10557 Berlin
Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,
lassen Sie mich vorweg sagen, dass ich Ihnen diesen
Brief aus grosser Sympathie für Deutschland schreibe, ein Land in dem
ich seit 53 Jahren mit meiner Familie lebe.
Am 18.03.2008 haben Sie in einer Rede vor dem
israelischen Parlament, der Knesset, im Namen der deutschen
Bundesregierung erklärt, dass die Sicherheit Israels Teil der
Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland sei.
Der Soziologe Professor Moshe Zuckerrmann hat die in
Ihrer Rede zum Ausdruck gebrachte Haltung der Bundesregierung zum Staat
Israel als eine “befindlichkeitsgeschwängerte Auseinandersetzung mit dem
Antisemitismus über ein fetischisiertes »Israel«-Bild“ beschrieben.
Diese deutliche Kritik an der Bundesregierung wurde
meines Erachtens durchaus berechtigt geübt, wie sich in diesen Tagen an
der Haltung der deutschen Bundesregierung zum Angriff Israels auf Gaza
ablesen lässt.
Die Angriffe Israels auf Gaza zum Anlass nehmend, hat
die Bundesregierung die Öffentlichkeit am 29.12.2008 wissen lassen, dass
die Verantwortung für die Entwicklung in der Region "eindeutig und
ausschließlich" bei der Hamas liege, darin sei sie sich mit dem
Ministerpräsidenten Israels einig.
Offensichtlich hat die deutsche Bundesregierung diese
uneingeschränkte und bedingungslose Solidarität mit Israel formuliert,
um auf diese Weise der oben erwähnten Staatsräson für die Bundesrepublik
eine Konsequenz in der politischen Praxis zu verleihen.
Bitte erlauben Sie mir Ihnen in Ihrer Eigenschaft als
höchste Vertreterin unserer Bundesregierung und Ihrem Kabinett mit
klaren Worten zu widersprechen, im Interesse der Bundesrepublik, wie
auch im Interesse der Menschen, von denen viele auch in Palästina, wie
auch in anderen Ländern der Muslimischen Welt, vor dem seit
Jahrhunderten in Europa verwurzelten Antisemitismus, immer eine Zuflucht
gefunden haben.
Ihre Regierung legt Wert darauf, „dass bei der
Beurteilung der Situation im Nahen Osten Ursache und Wirkung nicht
vertauscht werden“ und „Ursache und Wirkung nicht in Vergessenheit
geraten", aber dann muss die Bundesregierung sich auch im historischen
Kontext an der von ihr aufgestellten Maxime messen lassen. Die deutsche
Regierung vertauscht diese Zusammenhänge in höchst bedenklicher Art und
Weise.
Mit der einseitigen Parteinahme für die
menschenverachtende, aggressive und kriegstreibende Politik des
Triumvirats Olmert – Barak – Livni, eine Politik, die dem Staat Israel
weder mittel- noch langfristig nützt, sondern schaden wird, begeht die
Bundesregierung einen unerträglichen, gegen die Palästinenser
gerichteten Zivilisationsbruch.
Die Bundesregierung verstösst damit gegen die
universellen Menschenrechte, weil sie deren Einhaltung von Israel nicht
einfordert. Menschenrechte besitzen eine nicht qualifizierbare
Gültigkeit, unabhängig von Rasse, Geschlecht und religiöser
Zugehörigkeit. Diejenigen, die heute die Regierung Israels für den Tod
von über 630 und die Verstümmelung von über 2700 Menschen - Tendenz
steigend- bei dem seit über sechs Monaten (!) geplanten Angriff auf
Gaza, das „größte Freiluftgefängnis der Welt“ (Bischof Desmond Tutu),
verantwortlich machen, haben längst erkannt, dass der Konflikt in
Palästina nicht auf ein paar, primitive von der Hamas auf die Städte
Sderot und Ashkelon abgefeuerten Geschosse zurück zu führen ist.
Damit Sie mich nicht falsch verstehen, der Tod von
israelischen Zivilisten durch Kassam-Projektile ist durch nichts zu
rechtfertigen!
Aber der mittlerweile zweite Krieg, den die Regierung
Olmert in Gaza seit 2006 durchführt, wie auch die Schaffung eines seit
über zwei Jahren real existierenden „Ghetto Gaza“, dessen Bevölkerung
man einer umfassenden Belagerung aussetzt, ist ebenfalls durch nichts zu
entschuldigen!
Die westliche Wertegemeinschaft kann sich nicht mit
vorwurfsvollen Verweis auf die Hamas stillschweigend auf ein
unterschiedliches Richtmaß verständigen, ohne ihre Glaubwürdigkeit
nachhaltig und grundsätzlich in der Muslimischen Welt zu verlieren.
Die explosive Situation, die in Gaza existiert, ist
nicht "ausschließlich und eindeutig" das Produkt der Hamas-Regierung.
Achtzig Prozent der Menschen, die in Gaza leben, sind Personen und deren
Nachkommen, die im Jahr 1948 bei der Staatsgründung Israels in den
Gazastreifen geflohen sind, auch aus ehemals arabischen Städten wie
Ashkelon, auf arabisch „Askalaan“ genannt .
Die Mehrheit der Menschen in Gaza stammt nicht aus Gaza,
sondern sie sind Opfer von Vertreibung!
Die Menschen von Gaza leben seit 1967 gemäß
internationalem Recht unter israelischer Besatzung, daran hat auch der
Rückzug der Siedler und der israelischen Armee effektiv nichts geändert.
Das Bild, dass uns westliche Medien über Gaza zu
vermitteln suchen, entspricht nicht den historischen Gegebenheiten und
Folgen. Gaza ist nicht ein Slum, in dem eine Gruppe von bärtigen,
angeblich anti-semitischen, muslimischen Extremisten von heute auf
morgen verrückt geworden sind, die jetzt „zu Recht“ seitens des
angeblich "friedliebenden" und "rechtsstaatlichen" Israel zu Staub
zerbombt werden dürfen, während die Hüter der Menschenrechte im Westen
„das Recht Israels auf Selbstverteidigung“ zitierend zuschauen - als ob
dieses ein absolutes, nur dem Staat Israel zustehendes Recht sei.
In Gaza leben in einem Gebiet so groß wie die
deutsche Hansestadt Bremen Opfer einer historisch belegbaren "ethnischen
Säuberungspolitik" seitens Israels, so der israelische Historiker Dr.
Ilan Pappe.
Nach Aussage des deutschen Nahostexperten Dr. Michael
Lüders leben die Menschen in Gaza nicht in der „dritten, der vierten,
sondern in der fünften Welt“.
Allein im ersten Quartal des Jahres 2008 zerstörte
die Armee Israels in Gaza 289 Häuser und tötete 247 Menschen, darunter
42 Kinder und 15 Frauen. Sollte Zurückhaltung nicht anders aussehen?
Die Ursachen des gegenwärtigen Konfliktes dürfen
daher nicht in der Situation des Gazas von heute und der
palästinensischen Wahlen von 2006 gesucht werden. Gaza ist Symptom einer
seit über 60 Jahren andauernden katastrophalen und verfehlten
Nahostpolitik und Regionalpolitik des Westens respektive Israels, die
die Palästinenser zur Geisel genommen hat und, die die Palästinenser für
das vergangene Unrecht, dass Europa den Menschen jüdischen Glaubens
angetan hat, rücksichtslos bluten lässt.
Die von Ihrem Außenminister Steinmeier angekündigte
Erhöhung der humanitären Hilfe für die Menschen in Gaza ist zu begrüßen,
aber sie ist dennoch Ausdruck einer fehlgeleiteten Nahost-Politik. Diese
vermittelt den Eindruck, man könne einem Volk von mittlerweile mehr als
neun Millionen Palästinensern dauerhaft das natürliche und
unveräußerbare Recht auf Menschenwürde und sichere Heimstätte nehmen
lassen und durch eine permanente humanitäre Hilfe ersetzen. Ist dieser
Zustand nicht erniedrigend?
Diese nicht nur von Deutschland praktizierte
politische Haltung verlängert doch nur in kunstvoller Weise das Leid,
das Elend und die Perspektivlosigkeit von hier 1.5 Millionen Menschen in
Gaza, weil man aus einem falschen Geschichtsverständnis heraus nicht
gewillt ist, im Fall von Palästina generell Gerechtigkeit und Fairness
zu üben.
Die oft bemühte "westliche Wertegemeinschaft" versagt
mit Blick auf Palästina auf ganzer Linie, sie verliert sich in
Lippenbekenntnissen; in diesem Punkt trifft sie sich bedauerlicherweise
mit vielen korrupten Staatslenkern der Arabischen Welt.
Professor Moshe Zuckermann hat dies in den folgenden
Sätzen zusammengefasst, deren Lektüre ich jedem dringend empfehle, bevor
wieder über "Ursache und Wirkung" gesprochen wird: „Wer noch immer nicht
den Unterschied zwischen Judentum, Zionismus und Israel, mithin zwischen
Antisemitismus, Antizionismus und Israel-Kritik begriffen hat, wird
zwangsläufig miteinander vermengen, was auseinander gehalten gehört.
Israel führt einen erbitterten Kampf gegen Hamas und Hezbollah; dieser
hat seinen historischen Ursprung sowie seine aktuelle Begründung in der
nahöstlichen Geopolitik und im israelischpalästinensischen Konflikt,
nicht im Antisemitismus als solchem, schon gar nicht in einem dem
abendländischen vergleichbaren Antisemitismus.“
Wenn die Bundesregierung Ursachen anspricht, dann
darf sie es sich bitte nicht bequem machen und nach der nächst besten
Erklärung greifen, denn diese Selbstberuhigung stellt eine Beleidigung
des allgemeinen Menschenverstandes dar! Die französische Regierung hat
sich im aktuellen Krieg Israels gegen Gaza klüger verhalten, dies sei
nur am Rande vermerkt.
Wenn Ihnen als höchste politische Repräsentantin
unseres Landes und unserer Regierung wirklich an einer Lösung des
Konfliktes in Palästina gelegen ist, dann fallen Sie der israelischen
Regierung in den Arm, deren Verteidigungsminister Ehud Barak in seinen
eigenen Worten einen “totalen Krieg bis zum bitteren Ende“ führen will.
Diese nihilistische Sprache eines israelischen Politikers, dem die Türen
zu den politischen Schaltzentren des Westens offen zu stehen scheinen,
lässt mich schaudern, weil aus seinen Worten der unsägliche Geist einer
furchtbaren Vernichtungsideologie aufsteigt.
Dass Israels Verteidigungsminister Ehud Barak und
Aussenministerin Tsipi Livni über die frisch angelegten Friedhöfe Gazas
auch einen Kampf um die Wählergunst des israelischen Elektorates führen,
ist eine politische Praxis, die bei den Vertretern unseres Landes doch
zumindest Ablehnung hervorrufen sollte.
Diese Kriegspolitik Israels hat sich längst von der
Einsicht des ehemaligen Premierminister des Landes, Jitzchak Rabin,
verbschiedet, von dem nachfolgendes Zitat aus dem Jahr 1993 aus Anlass
des Osloer Abkommen stammt: "Wir sind dazu bestimmt, auf dem gleichen
Boden, auf der gleichen Erde zusammenzuleben. Es gab zu viel Blut und zu
viele Tränen. Es reicht!"
Für diese Haltung musste er am 4. November 1995 mit
dem Tod bezahlen, getötet durch die Kugeln, die ein jüdischer Terrorist
auf ihn abfeuerte; er traf ihn tödlich, als er das "Lied des Friedens"
sang.
Dreizehn Jahre später, am 4. November 2008
marschierten israelische Soldaten, zum wiederholten Mal (!) während des
Waffenstillstandes in Gaza ein, und erschossen, verletzten und
entführten mehrere Palästinenser, darunter auch Frauen.
Israel stellte mit dieser Verletzung der von Ägypten
im Juni 2008 vermittelten Waffenruhe endgültig die Weichen für den am
27.12.2008 ausgerufenen Krieg gegen Gaza, den man den Namen "Gegossenes
Blei" gegeben hat; ein kaum zu überbietender und perfider Zynismus,
beruft sich dieser Name doch auf ein altes Lied, das Kinder (!) aus
Anlass des jüdischen Chanukka-Festes singen.
Der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinschaft
von Schleswig Holstein Professor Rolf Verleger stellt aktuell und
vollkommen zu Recht die folgende Frage: „Gibt die Tatsache, dass wir
europäischen Juden Opfer eines großen Unrechts wurden, dem jüdischen
Staat vor Gott und den Menschen das Recht, nun anderen Unrecht zu tun?
Das ist doch die Frage. Und da macht es sich Frau Merkel ein bisschen
einfach, wenn sie sagt, Israel hat immer Recht.“
Mit der pauschalen Unterstützung für Israels
Kriegspolitik hat die Bundesregierung dem Ansehen der Bundesrepublik
Deutschland in der Muslimischen Welt großen Schaden zugefügt und Israel
einen gewaltigen Bärendienst erwiesen, wie die Zukunft leider zeigen
wird.
Millionen von Deutschen haben staatliches Unrecht und
Unterdrückung am eigenen Leib erduldet und erlebt, auch aus diesem Grund
hätte ich von der deutschen Bundesregierung mehr politisches
Fingerspitzengefühl und Weitsicht erwartet.
Vielleicht überdenken Sie und Ihre Minister die
offizielle Haltung Deutschlands zu Israels Krieg in Gaza noch einmal.
Mit freundlichen Grüssen