Ein Gipfel der Verlogenheit
Felicia Langer
In diesem Monat fanden in Berlin die 6.
deutsch-israelischen
Regierungskonsultationen seit 2008 statt.
Man hat die deutsch-israelische
Freundschaft, eine anerkannt stabile
Freundschaft, als das „Wunder unserer
Geschichte“ gepriesen.
In einem Kommentar im Schwäbischen Tagblatt
am 17.2.2016 ist zu lesen: „Und die
Kanzlerin lernt mit jedem Tag, an dem der
Bürgerkrieg in Syrien weiter geht, noch
etwas mehr über die Bedeutung Israels als
Brückenkopf der Demokratie in einer
Region voller Konflikte und leicht
entflammbarer Gefahrenherde.“
Diesen „Brückenkopf der Demokratie“ habe
ich 40 Jahre lang vor Ort erlebt: mit der
Entrechtung und Diskriminierung der
Palästinenser in Israel, einer Demokratie
für Juden, mit der grausamen israelischen
Besatzung arabischer Gebiete seit 1967, mit
Abertausenden getöteter und verwundeter
Palästinenser, mit Tausenden zerstörter
Häuser, Plantagen und Felder, mit
Abertausenden inhaftierter Palästinenser,
die auch jederzeit auf Grund des seit
Staatsgründung jährlich proklamierten
staatlichen Notstandes in Administrativhaft
genommen werden können, oft misshandelt und
gefoltert, mitunter bis zum Tod; wobei das
den Palästinensern zur Verfügung stehende
Rechtssytem nicht mehr als eine böse Farce
ist.
Alles hier Erwähnte verstößt gegen das
Völkerrecht und die Menschenrechte. Dazu
zählen auch die Vertreibung der
Palästinenser, die schon nach dem
Teilungsbeschluss der UNO im November 1947
und dann verstärkt 1948 vor der
Staatsgründung und im Krieg danach
stattgefunden hat; dazu die Enteignung
palästinensischen Bodens zur Errichtung
völkerrechtswidriger Siedlungen und ihrer
Infrastruktur sowie von willkürlichen
Militärzonen und Naturschutzgebieten.
Palästina leidet unter einem
Apartheidssystem, und die südafrikanischen
Helden, die gegen die Apartheid in ihrer
Heimat gekämpft haben, sagen, die Apartheid
in Palästina sei schlimmer als die in
Südafrika. – So sieht der gepriesene
„Brückenkopf“ der Demokratie auf dem Boden
der realen Politik aus.
Nach der einseitig beschlossenen und 2005
erfolgten „Räumung“ des Gazastreifens
erlebte dieser eine wirtschaftliche
Strangulierung und massive
Vernichtungskriege gegen seine Bevölkerung
und Zerstörung seiner Lebensgrundlage. Der
vom Westen vielfach eingeforderte
Wiederaufbau kommt auf Grund israelischer
Restriktionen nicht voran. Im Gegenteil, es
heißt, Gaza werde in ein paar Jahren
praktisch unbewohnbar sein.
Die Entrechtung der Palästinenser seit 1967
und zuvor hat zu einer gefährlichen
Instabilität im Nahen Osten geführt, die
auch den Weltfrieden gefährdet. Wenn man die
Fakten betrachtet, die Folgen der
israelischen Politik gegenüber den
Palästinensern in Israel und in den
besetzten palästinensischen Gebieten sind,
liegt es nahe, den Grund dafür in einem
rassistischen Hass maßgeblicher Kreise der
politischen Klasse in Israel auf die
Palästinenser zu sehen. Der ist mittlerweile
auch unverblümt in öffentlichen Äußerungen
einiger Politiker, sowohl
Knesset-Abgeordneter wie
Regierungsmitglieder, zu erkennen.
Nach außen stellt sich Israel gerne als in
seiner Existenz bedroht dar, was
mittlerweile von den eigenen Militärexperten
bestritten wird. Israel ist schließlich die
einzige Atommacht im Nahen Osten, die sich
allerdings internationaler Kontrolle
erfolgreich entzieht, verfügt über ein
massives Waffenarsenal und eine äußerst
innovative Rüstungsindustrie, die ihre
Produkte, die unter „realistischen
Bedingungen“ an Palästinensern getestet
werden, gerne an andere Staaten verkauft.
Zurück zum Kommentar zu den
deutsch-israelischen
Regierungskonsultationen im Schwäbischen
Tagblatt und dem Gipfel der Verlogenheit –
aus dem Mund von Premierminister Netanjahu.
Er antwortete Frau Merkel, die erklärte, sie
verlange von Teheran ein klares Bekenntnis
zum Existenzrecht Israels, mit den Worten,
„Israels Demokratie sei eine Festung der
westlichen Zivilisation im Nahen Osten…
Wenn Israel nicht bestände, dann wäre der
gesamte westliche Teil des Nahen Ostens vom
extremen Islamismus überrollt worden… Und
wenn wir dort nicht stünden, dann wären noch
weitere Millionen schon nach Europa
gekommen.“
Der Terminus „Festung der westlichen
Zivilisation“ erinnert stark an Theodor
Herzls oft zitierte Worte in seinem Werk
„Der Judenstaat“, in dem er die jüdische
Nationalbewegung als „ein Stück des Walles
gegen Asien… als Vorposten der Kultur gegen
die Barbarei“ preist. – Diese „Festung der
westlichen Zivilisation im Nahen Osten“
tritt ungestraft das Völkerrecht mit Füßen,
missachtet ungehindert die Menschenrechte,
an die Israel als Mitglied der UNO gebunden
ist, und begeht immer wieder
Kriegsverbrechen, weil es bislang außer
verbalen Ermahnungen keine Konsequenzen
seitens der „westlichen Zivilisation“ zu
fürchten hat.
Ich sage das als Zeitzeugin und Augenzeugin,
ich habe es zeit meines Lebens in Israel und
Deutschland erlebt, beschrieben und zu
bekämpfen versucht – bis zum heutigen Tag.
Der „extreme Islamismus“ im Nahen Osten ist
u. a. eine Antwort auf die Entrechtung der
Palästinenser durch Israel. Und er, der Mann
ohne Scham, sagt, „wenn wir dort nicht
stünden, wären noch weitere Millionen schon
nach Europa gekommen“. Das sagt ein Mann,
dessen Land, mittlerweile Millionen
palästinensischer Flüchtlinge auf dem
Gewissen hat, die in Flüchtlingslagern im
Libanon, in Jordanien und bis vor kurzem in
Syrien Zuflucht fanden. Der Mann, dessen
Land die größte Flüchtlingskatastrophe des
20. Jahrhunderts im Nahen Osten, die NAKBA,
verursacht hat, die palästinensische
Katastrophe, an die in Israel aber nicht
erinnert werden darf. Der Premierminister,
der afrikanische Flüchtlinge, die keine
Juden sind, in ein Gefängnis in der Wüste
sperrt. Der Mann, der friedensresistent ist,
der Premierminister einer Regierung mit
faschistoiden Zügen, der schlimmsten, die es
in Israel bisher gab. Diejenigen, die in
Israel dagegen kämpfen, und friedensbewegte
Juden und ihre Unterstützer im Ausland sind
mutige Friedensstifter, die wollen, dass
Palästinenser wie Menschen leben können.
Aber sie werden durch israelische Behörden
und jüdische Organisationen behindert und
verfolgt.
Es wäre sinnvoll und wünschenswert, wenn
Frau Merkel und ihre Kollegen dies
verinnerlichen könnten – und dementsprechend
handeln. Das ist das Beste, was sie für den
Nahen Osten tun können. Alles andere ist
verlogen. Mit hehren Worten in
Vereinbarungen macht man keine konstruktive
Politik.
Felicia Langer