ANTIZIONISMUS IST NICHT ANTISEMITISMUS
- M. Warschawski - (Leiter des
Alternative Information Center in Jerusalem)
Der israelisch-palästinensische Konflikt verführt leicht zu religiösen
oder zumindest ethnischen Interpretationen. Er spielt sich auf einem
Gebiet
ab, das die Wiege von Welt-religionen war und das viele "Heiliges Land"
nennen; der Zionismus wird oft als "Rückkehr" des jüdischen Volkes ins
Gelobte Land dargestellt, und seine Argumente schöpfen viel aus dem
Bereich
tradierter Rechte, wenn nicht gar göttlicher Verheißung; Jerusalem ist
dreifach heilige Stadt und von Wallfahrtszielen übersät.
Die Allgegenwart der islamistischen Kultur im arabischen Bewusstsein
und
in der arabischen nationalen Kultur geht gleichfalls schwanger mit der
Konfessionalisierung eines Konflikts, der oft als Befreiung eines
islamischen, von Ungläubigen besetzten Bodens dargestellt wird. Dem
muss
die
zionistische Idee hinzugefügt werden, einen "jüdischen Staat" zu
schaffen,
und die entsprechende permanente Strategie jüdischer Kolonisierung, die
nicht ohne den ethnischen Säuberungskrieg von 1948 auskam.
Es ist ein Verdienst Yasser Arafats, in einem solchen Kontext alles
Menschenmögliche getan zu haben, um den israelisch-palästinensischen
Konflikt in seiner politischen (und nicht religiösen oder ethnischen)
Dimension zu halten: nämlich die eines Kampfes für nationale Befreiung
und
Unabhängigkeit, eines antikolonialen Kampfes um ein Territorium und um
nationale Souveränität.
Umgekehrt ist eines der größten Verbrechen des ehemaligen
Premierministers
Ehud Barak, das religiöse Element in die Verhandlungen eingeführt zu
haben,
indem er auf dem zweiten Gipfeltreffen von Camp David die jüdische
Souveränität über die Moscheenallee von Jerusalem auf der Grundlage
religionsgeschichtlicher Thesen gefordert hat. Diese irre Forderung war
ohne
Zweifel einer der Hauptgründe für den Zusammenbruch des Oslo-
Prozesses.
Die
Geschichte wird zeigen, ob sie nicht auch zum Auslöser eines
Religionskrieges im gesamten Mittleren Osten und eines weltweiten
islamisch-jüdischen Konflikts wird.
Der israelisch-palästinensische Konflikt ist ein politischer Konflikt
zwischen einer kolonialen Bewegung und einer nationalen
Befreiungsbewegung.
Der Zionismus ist eine politische und keine religiöse Ideologie, die
darauf
abzielt, die jüdische Frage in Europa durch die Einwanderung in
Palästina,
seine Kolonisierung und die Schaffung eines jüdischen Staates zu lösen.
So
haben seine Sprecher ihn immer definiert, von Herzl bis Ben Gurion, von
Pinsker bis Jabotynski, die die Konzepte der Kolonisierung (Hityashvut)
oder der Kolonien (Yishuv, Moshav) nie in einem negativ wertenden Sinne
benutzt haben. Bis zum Aufstieg des Nazismus hat die überwältigende
Mehrheit der Juden weltweit den Zionismus verworfen, sei es als Häresie
(das
war die Position der großen Mehrheit der Rabbiner und der religiösen
Juden),
sei es als reaktionär (das war die Position der jüdischen
Arbeiterbewegung
in Osteuropa), sei es als anachronistisch (so dachten die emanzipierten
oder
assimilierten Juden in Mittel- und Westeuropa). In diesem Sinne wurde
der
Antizionismus immer als eine politische Position unter anderen
verstanden,
die dazu noch ungefähr ein halbes Jahrhundert in der jüdischen Welt
hegemonial war. Erst seit etwa dreißig Jahren gibt es eine breite
Kampagne,
die mit unleugbarem Erfolg versucht, nicht zur Kontroverse über die
politische Sinnhaftigkeit des Zionismus beizutragen, zur Analyse seiner
Dynamik und seiner politischen und moralischen Implikationen, sondern
den
Antizionismus zu delegitimieren, indem er ihn mit Antisemitismus
gleichsetzt.
Semantische Verschiebungen.
Wie jeder andere Rassismus negiert der Antisemitismus (oder die
Judenfeindlichkeit) den Anderen in seiner Identität und in seiner
Existenz.
Der Jude ist, egal was er tut, egal was er denkt, Hassobjekt bis hin
zur
Ausrottung, nur weil er Jude ist.
Der Antizionismus hingegen ist eine politische Kritik an einer
politischen
Ideologie und Bewegung; er greift nicht eine Menschengruppe an, sondern
stellt eine bestimmte Politik in Frage. Wie kommt man dann dazu, die
politischen Ideen des Antizionismus mit der rassistischen Ideologie des
Antisemitismus gleichzusetzen? Eine europäische Gruppe zionistischer
Intellektueller hat die Lösung gefunden, indem sie das Unterbewusste
ins
Spiel bringt und ein Konzept einführt, mit dem man alles beweisen kann:
nämlich das der "semantischen Verschiebung". Wenn man den Zionismus
anklagt
oder auch Israel kritisiert, dann geht es einem, manchmal unbewusst,
nicht
um die Politik einer Regierung (der Regierung Sharon) oder um den
kolonialistischen Charakter einer politischen Bewegung (des Zionismus)
oder,
mehr noch, den institutionalisierten Rassismus eines Staates (Israel),
sondern um die Juden. Wenn man sagt: "Die Bombardierungen der
Zivilbevölkerung sind Kriegs-verbrechen", oder: "Die Kolonisierung ist
eine
flagrante Verletzung der Vierten Genfer Konvention", meint man in
Wirklichkeit: "Das jüdische Volk ist verantwortlich für den Tod von
Jesus
Christus" und "Tod den Juden"!
Natürlich kann man auf ein solches Argument nichts erwi-dern, denn jede
Antwort wird, vielleicht unbewusst, zur Verteidigung des
Antisemitismus.
Das
Argument der Bedeutungsverschiebung und der Rückgriff auf das
Unter-bewusste
in der politischen Polemik beendet jede Möglichkeit der Debatte, egal
zu
welchem Thema im Übrigen. Die Verurteilung des Kolonialismus wird zu
einer
Verurteilung des Engländers (oder des Franzosen oder des Deutschen, je
nachdem), seiner Kultur und seiner Existenz. Auch den Antikommunismus
gibt
es nicht, er ist eine Wortbedeutungs-verschiebung für den Slawenhass.
Wenn
ich sage: "Ich mag keinen Camembert", denke ich in Wirklichkeit: "Tod
den
Franzosen!"; wenn ich erkläre, jiddische Musik zu mögen, sage ich
mittels
semantischer Verschiebung, dass ich die Araber hasse.
Der Antisemitismus existiert und scheint in Europa wieder sein Haupt zu
erheben - nach einem halben Jahrhundert der Ächtung in Folge des
Grauens
des
Völkermords an den Juden durch die Nazis und der Verbrechen der
Kollaboration. Bei einem wachsenden Anteil der arabisch- moslemischen
Gemeinden in Europa nehmen rassistische Verallgemeinerungen zu, werden
unterschiedslos die Juden für die Verbrechen verantwortlich gemacht,
die
der
jüdische Staat und seine Armee verüben. Im Übrigen findet sich der
Antisemitismus oft im selben Lager wieder, das die israelische Politik
bedingungslos unterstützt, so z.B. unter den fundamentalistischen
protestantischen Sekten, die in den USA die wirkliche proisraelische
Lobby
darstellen.
Der antiarabische Rassismus existiert ebenfalls, nur räumen die Medien
den
drastischen Polemiken des Beitar und der Jüdischen Verteidigungsliga
gegen
die islamischen Institutionen oder gegen Organisationen, die sich der
israelischen Kolonisierungspolitik widersetzen, wenig Platz ein - oder
den
Parolen, die die Häuserwände gewisser Viertel in Paris verunzieren
("Tod
den
Arabern", "Keine Araber, keine Anschläge") oder den organisierten
Ausschreitungen zionistischer Kommandos.
Der antiarabische und der antijüdische Rassismus müssen beide ohne
Zugeständnisse verurteilt und bekämpft werden, und das kann man wirksam
nur
machen, wenn man sie frontal bekämpft, sonst verstärkt man die
verbreitete
Idee, hinter der Verurteilung des einen Rassismus stecke faktisch ein
Angriff auf die andere Menschengruppe.
Diejenigen, die tatsächliche oder durch "Wortbedeutungs-verschiebung"
unterstellte antisemitische Handlungen ver-urteilen und zu
antiarabischen
Exzessen schweigen, machen sich mitverantwortlich für die
Kommunitarisierung
und Ethnisierung der Köpfe und für die Verstärkung des Anti-semitismus,
denn
sie bekämpfen nicht den Rassismus über-haupt, egal von wem er ausgeht
und
gegen wen er sich richtet, sondern ausschließlich den Rassismus der
anderen.
Sicher sind nicht sie es - die Tarnero, Lanzmann und anderen Tagieffs -
die
das Recht hätten, der radikalen Linken und der Bewegung gegen die
marktradikale Globalisierung, die immer an der Spitze antirassistischer
Kämpfe standen und keinen dieser Kämpfe im Stich lassen, irgendwelche
Lehren
zu erteilen.
.und reale Komplizenschaft
Doch gehen wir einen Schritt weiter.
Ein wichtiger Teil der Verantwortung für das Übergleiten von der Kritik
an
der israelischen Politik zu antisemitischen Haltungen ruht auf den
Schultern eines Teils der oft selbsternannten Vorstände der jüdischen
Gemeinden in Europa und in den USA. Tatsächlich sind sie es, die sehr
oft
die jüdische Gemeinde als solche mit einer bestimmten Politik
gleichsetzen
- nämlich der einer bedingungslosen Unterstützung der politischen
Führung
Israels. Wenn sie, wie in Straßburg, dazu aufrufen, ihre Unterstützung
für
Sharon auf dem Vorplatz einer Synagoge zu demonstrieren, wen wundert es
dann, wenn die Synagoge zur Zielscheibe von Demonstrationen gegen die
israelische Politik wird?
Und was soll man von den kommunitaristischen Sprechern der jüdischen
Gemeinde in Frankreich sagen, die den Wahlerfolg Le Pens "verstehen"
und
"hoffen, dass er die arabische Gemeinde in Frankreich zum Nachdenken
bringt"?
Kann man in dieser Haltung die Komplizenschaft mit dem Mann übersehen,
der
in Frankreich am meisten die rassistische - und so auch die
antisemitische
- Ideologie verkörpert? Eine Komplizenschaft, die die Zusammenarbeit
extrem
rechter Organisationen wie des Beitar mit faschistischen und
antisemitischen Gruppen wie Occident aus den 70er Jahren fortsetzt.
Hier
handelt es sich nicht mehr um semantische Verschiebung, sondern um ein
abgekartetes Spiel.
Die israelische Politik wird weltweit von vielen kritisiert, und je
mehr
der jüdische Staat außerhalb des Rechts handelt, desto mehr wird er als
gesetzlos betrachtet werden und den entsprechenden Preis dafür
bezahlen.
Es
ist völlig unakzeptabel und unverantwortlich, dass solche jüdischen
Intellektuellen, die wie die Vorstände jüdischer Gemeinden in aller
Welt
eine absolute Identifikation mit Israel zur Schau tragen, letztere mit
in
den Abgrund ziehen, auf den Ariel Sharon und seine Regierung zustreben.
Im Gegenteil, wenn sie wirklich von der Sorge um die Gemeinschaft
bewegt
wären, in deren Interesse sie zu sprechen vorgeben, würden sie ihr
Möglichstes tun, um die barbarischen Akte des israelischen Staates zu
demaskieren und die dramatischen Konsequenzen aufzuzeigen, die diese
Handlungen früher oder später für eine nationale hebräische Existenz
überhaupt im Nahen Osten nach sich ziehen werden.
Dadurch würden sie Verantwortungsbewusstsein auch gegenüber der
jüdischen
Gemeinschaft in Israel an den Tag legen: Wäre es nicht besser, wenn
sie,
statt dem israelischen Draufgängertum zu schmeicheln und zur wachsenden
selbstmörderischen Verblendung der israelischen Führung und Bevölkerung
beizutragen, und statt mit Lanzmann zu schreien: "Immer bedingungslos
mit
Israel", als Schutzwall fungierten und Sharon und seine Regierung vor
den
dramatischen Konsequenzen seiner Politik warnten?
Sind sie so blind, nicht zu sehen, dass die Straffreiheit, derer sich
Israel bei bestimmten politischen und weltanschaulichen Strömungen in
Europa
und Nordamerika erfreut, nur die andere Seite des Antisemitismus und
seines
Arsenals "jüdischer Besonderheiten" ist? Sind sie so stumpfsinnig nicht
zu
begreifen, dass für viele sog. Freunde Israels die Haltung des
Gewährenlassens gegenüber dem jüdischen Staat Ausdruck eines Zynismus
ist,
der die Juden gern frontal gegen die Wand laufen sieht? Und dass im
Gegenteil denjenigen, die Israel - und manchmal hart - kritisieren, das
Leben und Überleben seiner Bevölkerung wirklich am Herzen liegt?
Ariel Sharon, seine Minister, seine Generäle, seine Richter und ein
Teil
seiner Soldaten werden sich eines Tages vor dem Internationalen
Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen oder sogar für Verbrechen gegen
die
Menschlichkeit verantworten müssen. Damit dann nicht die gesamte
israelische
Bevölkerung auf der Anklagebank sitzt, gibt es in Israel Tausende
Männer
und Frauen, Zivilisten und Soldaten, die "Nein" sagen, die Widerstand
leisten und in Opposition gehen.
Um die Juden der Welt vor dem Vorwurf der Mitverantwortlichkeit zu
schützen, um der antisemitischen Propaganda den Boden zu entziehen, die
die
Leiden der Palästinenser instrumentalisiert, um jeden Juden, nur weil
er
Jude ist, für schuldig zu erklären, um der Kommunitarisierung und
Ethnisierung des israelisch- palästinensischen Konflikts einen Riegel
vorzuschieben, ist es unbedingt notwendig, dass sich eine mächtige und
feste
Stimme innerhalb der jüdischen Gemeinden Gehör verschafft, die sagt,
was
der
Name einer US- amerikanischen jüdischen Organisation ausdrückt, die
sich
diesem Ziel verschrieben hat: "Nicht in unserem Namen!"
Es ist natürlich auch die Pflicht der demokratischen und linken
Organisationen auf der ganzen Welt, die Verbrechen Israels ohne jede
Konzession zu verurteilen, nicht nur weil die Verteidigung der
Unterdrückten und Kolonisierten, welcher auch immer, integraler
Bestandteil
ihres Programms und ihres Denkens ist, sondern auch weil nur eine klare
und
mit den anderen Kämpfen, die sie führen, kohärente Position es ihnen
ermöglicht, den Kommunitarismus und Rassismus in ihrem eigenen Land zu
bekämpfen.
Sich von der Erpressung mit dem Antisemitismusverdacht abschrecken zu
lassen, zu schweigen, um sich nicht der Anklage auszusetzen, man leiste
"dem
Antisemitismus Vorschub" oder sei gar "unbewusst antisemitisch", kann
letztlich nur den wirklichen Antisemiten zugute kommen oder zumindest
die
identitäre und kommunitaristische Verwirrung fördern.
Die wirkliche antirassistische und antikolonialistische Linke braucht
nicht erst zu beweisen, dass sie im Kampf gegen die antisemitische Pest
steht. Sie wird diesen Kampf desto wirksamer fortführen, je klarer und
unzweideutiger sie zu den Kriegsverbrechen Israels und zu seiner
Kolonisierungspolitik Stellung bezieht.
(Abdruck aus der Sozialistischen Zeitung, September 2002) |