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Ein schmutziges Wort
Uri Avnery, 19.März 2011
Donnerstagabend war für mich ein Tag voller
Aufregungen. Zuerst hörte ich die bluttriefende Rede von Muammar
Gaddafi, in der er versprach, innerhalb weniger Stunden Benghasi zu
besetzen und ein Blutbad unter den Rebellen anzurichten.
Ich war äußerst besorgt und auf die
internationale Gemeinschaft sehr wütend, besonders mit den USA, die
Tage und wochenlang kostbare Zeit mit leeren Phrasen vergeudeten,
während der Diktator Libyen Stück um Stück zurückeroberte.
Dann war das fast unglaubliche Bild des
UN-Sicherheitsrates, der innerhalb einer Stunde einberufen war, auf
Reden verzichtete und die Resolution ohne Opposition annahm, die zu
einer militärischen Intervention aufrief.
Die Szene, die auf Benghasis Hauptplatz
folgte und über Al-Jazeera live ausgestrahlt wurde, erinnerte mich
an den Mugrabi-Platz in Tel Aviv am 29. November 1947, kurz nachdem
die UN-Vollversammlung die Resolution über die Teilung Palästinas
zwischen einem jüdischen und arabischen Staat angenommen hatte. Die
Freude und die Erleichterung waren vollkommen.
DAS ZÖGERN der USA und anderer Länder,
militärisch in Libyen zu intervenieren, war skandalös, war
ungeheuerlich.
Mein Herz ist mit dem libyschen Volk
(tatsächlich bedeutet „libi“ auf hebräisch „mein Herz“.)
FÜR MICH ist „Nicht-Einmischung“ ein
schmutziges Wort. Es erinnert mich an den Spanischen Bürgerkrieg,
der statt fand, als ich noch sehr jung war.
1936 wurde die spanische Republik und
das spanische Volk brutal von einem spanischen General, Francisco
Franco mit aus Marokko importierten Söldnern angegriffen. Es war ein
sehr blutiger Krieg mit unsäglichen Grausamkeiten.
Franco wurde entscheidend vom
Nazi-Deutschland und dem faschistischen Italien geholfen. Die
deutsche Luftwaffe terrorisierte spanische Städte. Das Bombardement
der Stadt Guernica wurde durch ein Gemälde von Pablo Picasso
verewigt. (Man erzählt sich die Geschichte, dass, als die Nazis ein
paar Jahre später Paris besetzten, sie wütend über das Gemälde
waren und Picasso anschrieen: „Hast du das getan?“ „Nein!“
antwortete er ruhig. „Das wart ihr!“)
Die westlichen Demokratien weigerten
sich hartnäckig, der Republik zu helfen, und prägten den Terminus
„Nichteinmischung“. Nichteinmischung bedeutete praktisch, dass
Großbritannien und Frankreich nicht intervenierten, während
Deutschland und Italien es taten und Schlimmstes verursachten. Die
einzige ausländische Macht, die den belagerten Demokraten half, war
die Sowjetunion. Wie wir viel später erfuhren, nützten Stalins
Agenten die Situation aus, um ihre Mitkämpfer – die Sozialisten, die
Syndikalisten , die Liberalen und andere zu eliminieren.
Damals sah es wie ein klarer Kampf
zwischen Guten und absolut Bösen aus. Idealisten aus aller Welt
schlossen sich den Internationalen Brigaden der Republik an. Wenn
ich nur ein paar Jahre älter gewesen wäre, hätte ich mich
zweifellos auch freiwillig gemeldet. 1948 sangen wir in unserm
eigenen Krieg mit Begeisterung die Lieder der internationalen
Brigaden.
FÜR JEMANDEN, der in der Zeit des
Holocaust lebte, besonders für einen Juden, kann es keinen Zweifel
geben.
Als er vorüber war, und das entsetzliche
Ausmaß des Genozids bekannt wurde, gab es einen Aufschrei, der noch
kein Ende gefunden hat.
Wo war die Welt? Warum haben die
Alliierten nicht die Bahnstrecken nach Auschwitz bombardiert? Warum
zerstörten sie nicht die Gaskammern und Krematorien in den
Todeslagern aus der Luft?
Diese Fragen sind bis zum heutigen Tag
nicht befriedigend beantwortet worden. Wir wissen, dass Anthony
Eden, der britische Außenminister, Präsident Franklin D. Roosevelt
fragte: „Was sollen wir mit den Juden tun, denen die Flucht gelingt
?“ Wir wissen auch, dass die Alliierten große Angst hatten, als
diejenigen angesehen zu werden, die „für die Juden“ den Krieg
führten, wie die Nazipropaganda von morgens bis abends behaupteten.
Tatsächlich warfen die Deutschen Flugblätter über amerikanischen
Stellungen in Italien ab: ein hässlicher Jude mit krummer Nase
bummelte mit einer blonden Amerikanerin. Die Überschrift lautete:
„Während du dein Leben riskierst, verführt der Jude zu Hause deine
Frau!“
Wenn militärische Macht angewandt worden
wäre, um die Nazis daran zu hindern, deutsche Juden – und Roma – zu
töten, wäre dies entschieden eine Einmischung in innere
Angelegenheiten Deutschlands gewesen. Man hätte gut behaupten
können, dass es nicht ein Fall eines anderen Staates wäre und auch
nicht ein Fall für militärische Einmischung .
Sollte es nun gemacht werden oder nicht?
Und wenn die Antwort Ja lautet, warum gilt es für Hitler und nicht
für den kleinen Führer in Tripolis?
DIES FÜHRT uns natürlich direkt nach
Kosovo.
Dort kam dieselbe Frage auf. Slobodan
Milosevic beging einen Genozid – trieb ein ganzes Volk hinaus,
beging unterwegs unsägliche Grausamkeiten. Kosovo war ein Teil von
Serbien und Milosevic behauptete, dass dies eine interne serbische
Angelegenheit sei.
Als es dann einen weltweiten Aufschrei
gab, entschied Bill Clinton, Einrichtungen in Serbien zu
bombardieren, um Milosevic dahin zu bringen, aufzugeben. Dem Papier
nach war es eine NATO-Aktion. Sie erreichte, was sie wollte, die
Kosovaren kehrten in ihre Heimat zurück, und heute haben wir eine
unabhängige Republik Kosovo.
Damals applaudierte ich öffentlich – zur
Bestürzung vieler meiner linken Freunde zu Hause und überall in der
Welt. Sie bestanden darauf, dass das Bombardement ein Verbrechen
war, besonders als es von der Nato durchgeführt wurde, die für sie
ein Instrument des Teufels war.
Meine Antwort war, dass ich bereit sei,
einen Pakt mit dem Teufel zu schließen, um einen Genozid zu
verhindern.
Dies gilt auch für heute. Es ist mir
gleichgültig, wer Gaddafis mörderischem Krieg gegen sein eigenes
Volk und besonders den Bombenangriffen seiner Luftwaffe ein Ende
setzt. Die UN, die NATO oder die US allein - wer es auch tut, dem
sei gedankt.
Vor ein paar Tagen, an einem Tag, an dem
Gaddafis Piloten wie üblich Libyer töteten, las ich einen Artikel
einer amerikanischen Journalistin , die ich sehr schätze. Heftig
griff sie die Idee an, dass die USA eine Flugverbotszone über Libyen
erzwingen wollen, da besonders der abscheuliche Paul Wolfowitz
dies befürwortete.
Es sieht so aus, als sei dies eine
interne amerikanische Angelegenheit geworden. Während die extreme
Rechte ( aus irgendwelchen Gründen „konservativ“ benannt) -
Teapartyer, Neo-Cons und ähnliche - die Flugverbotszone
befürworten, politisch korrekte „Liberale“ ( noch so eine seltsame
Bezeichnung) dagegen sind.
Menschen werden von einem
unbarmherzigen, halbverrückten Diktator getötet, ein ganzes Land
geht den Bach hinunter – was um Himmels willen, hat das mit
interner amerikanischer Politik zu tun? Und warum sind meine
Freunde in die falsche Ecke manövriert worden?
BARACK OBAMA war wieder in Hochform,
sagt all die richtigen Dinge und tut die falschen Dinge oder tut
gar nichts.
Er sagte zu Gaddafi, er solle gehen,
und sah dann passiv zu, wie der Tyrann, anstelle zu gehen, sein
Volk terrorisiert. Sein Verteidigungsminister erzählte jedem, was
für eine unglaublich schwierige Operation eine Flugverbotszone sein
würde, seine Generäle warnten vor noch einem Krieg, den sie nicht
führen könnten. Die allmächtige USA sieht aus wie eine vergangene
Großmacht, die nicht in der Lage ist, auch nur die kleinste
Militäroperation gegen die unbedeutende Luftwaffe eines mickrigen
Diktators zu unternehmen. Jeder israelische Luftwaffenkommandeur
würde den Job bis zum Mittagessen erledigt haben.
Wir sind nicht die Polizisten der Welt,
behaupteten amerikanische Politiker. Aber genau das ist es, was eine
Supermacht ausmacht – Macht hat mit Verantwortlichkeit zu tun.
Die erbärmliche Ansicht der
Obama-Regierung in dieser Krise zeigt, dass die USA nicht länger die
Supermacht ist, sondern nur eine Großmacht, die ängstlich ihre
Ölvorräte absichern möchte mit Hilfe von gemischten Königen und
Emiren. Nach ihrer kläglichen Kapitulation gegenüber der
israelischen rechten Lobby und ihrem Veto gegen die Resolution des
UN-Sicherheitsrats gegen die Vergrößerung der Siedlungen, ist der
Beschluss wirklich traurig.
Zyniker werden sagen, dass die
Amerikaner Gaddafi wirklich halten wollten, damit er weiter Öl
liefern kann. Genau so unterstützen sie die Autokraten von Saudi
Arabien und Bahrein, die ihre Völker unterdrücken und fortfahren,
das Öl wie ihren privaten Besitz zu behandeln.
„Nicht-Einmischung“ lieferte das
spanische Volk in die heikle „Barmherzigkeit“ eines Franco aus und
half Hitler im sensibelsten Stadium seiner Kriegsvorbereitungen.
Direkte Einmischung schickte Milosevic – andrerseits – zu den
Kriegsverbrechern ins Gefängnis.
ICH MÖCHTE meine Position dazu ganz klar
machen.
Die Doktrin der Nicht-Einmischung in
innere Angelegenheiten anderer Länder, wenn es sich um Genozid und
Massentötungen handelt, ist tot und sollte beerdigt werden, bevor
seine Leiche zum Himmel stinkt.
Im augenblicklichen Zeitpunkt der
Geschichte ist es die Pflicht aller Nationen, systematische
Grausamkeiten, die von kriminellen Regierungen gegen die eigenen
Bürger ausgeführt werden, zu verhindern. Dazu wäre die
internationale Institution wie die UN verpflichtet, aber wenn diese
– wie so oft – versagt, sind andere Staaten oder Gruppen dazu
verpflichtet. Man muss der Arabischen Liga, zu der 22 arabische
Nationen gehören, zu gute halten, dass sie unmissverständlich für
eine militärische Einmischung gegen Gaddafi ist – wenn auch nicht
gegen alle arabischen Tyrannen, von denen einige für die Resolution
stimmten.
Vor Jahrhunderten wurde beschlossen,
dass jede Nation verantwortlich für das Fangen und Verurteilen von
Piraten war - ganz egal, wo und gegen wen das Verbrechen begangen
wurde. Dieses Prinzip sollte jetzt bei Verbrechen angewandt werden,
die Regime gegen ihr eigenes Volk begehen. Muammar Gaddafi sollte
gefangen und vor Gericht gestellt werden.
Menschlichkeit bewegt sich auf eine
zivilisierte Weltordnung hin. Nicht-Einmischung ist das Gegenteil.
Die eilige Resolution des
UN-Sicherheitsrats am Donnerstag war ein historischer Schritt in
diese Richtung. In meiner Phantasie sah ich Minuten, nachdem die
Stimmen abgezählt waren, französische Flugzeuge auf den Startbahnen
rollen. Das ist nicht geschehen. Aber Libyen ist gerettet und
Gaddafis Schicksal ist besiegelt.
Nicht-Einmischung sollte ein
schmutziges Wort in der internationalen Redeweise werden.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
Inserat von Gush Shalom
Wahnsinn
Kinder zu morden ist ein abscheuliches Verbrechen
Das aufs Schärfste verurteilt werden muss.
Es verursacht nicht nur großes Leid
Auch im Volk des Mörders
Massive Siedlungen zu bauen
Als Reaktion auf den Mord
Ist aber wie die Tat eines Feuerwehrmannes
Der Öl in die Flammen gießt.
In Haaretz, 18. März 2011
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