
Die zerstörerische Gewalt
der fünfzigjährigen israelischen Besatzung
Felicia Langer
Die
israelische Besatzung der palästinensischen
Gebiete seit dem so genannten
Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 hat das Leben
von Millionen Palästinensern geändert. Auch
mein eigenes Leben. Als Zeitzeugin und
Augenzeugin habe ich zu helfen versucht,
leider meist vergebens. Die israelischen
Verbrechen wie Folterungen, willkürliche
Verhaftungen in großem Stil,
Administrativhaft, Deportationen, Enteignung
von Land, Zerstörung von Häusern und Hab und
Gut habe ich miterlebt und in meinen Büchern
beschrieben, um diese Informationen einer
breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Bei meinen Lesungen habe ich allzu erlebt,
dass Menschen zu mir kamen und sagten: „Das
haben wir nicht gewusst!“
Die Neuauflage
meines Buches „Mit eigenen Augen“, 2016 beim
Cosmics Verlag erschienen, trägt den
Untertitel „Israel hat den Palästinensern
Land, Freiheit und Würde geraubt“. Das ist
das Fazit der letzten 50 Jahre der
israelischen Besatzung. – Zu den
einschneidendsten gewaltsamen Übergriffen in
das Leben palästinensischer Familien zählt
die Zerstörung ihres Hauses, sei es dass es
ohne Genehmigung gebaut wurde, weil diese
nicht zu erhalten war, oder dass einem
Familienmitglied die Beteiligung an einem
Attentat vorgeworden wird. In diesem Fall
stellt die Zerstörung eine
völkerrechtswidrige Kollektivstrafe dar. Die
israelische Nichtregierungsorganisation „Das
israelische Komitee gegen
Häuserzerstörungen“ (ICAHD), schätzt, dass
seit 1967 bis heute 48.488 palästinensische
Häuser zerstört worden sind. (Die Zahl der
amtlich zugestellten Abrissbescheide, die
jederzeit zur Vollstreckung kommen können
ist dabei nicht erfasst.) Das ist eine
erschreckende Zahl, vor allem, wenn man sich
aus eigener Erfahrung die Geschichte
vorstellen kann, die hinter der Nachricht
steckt, israelische Behörden haben ein
palästinensisches Haus zerstört. Mich
erschüttert eine solche Nachricht bis heute
zutiefst und ich möchte deshalb aus meinen
ersten Erfahrungen mit Häuserzerstörungen
zitieren (Zorn und Hoffnung, Seite 92 und
93):
Haus in den Blumen
Tausende von
Häusern wurden seit jenem Tag im Jahre 1968
in die Luft gesprengt, an dem ich auf dem
Hügel stand, der sich in Nablus neben den
Ruinen des kleinen Hauses von Hamsi Tukan
erhebt. Es war ein schönes geräumiges Haus
mit Blumenbeeten an beiden Seiten der
Stufen, die zum Haus hinaufführten. Der alte
Tukan deutete auf die Trümmerhaufen dessen,
was vor wenigen Tagen noch sein Haus gewesen
war. Die gepflegten Blumenbeete waren von
Betonbrocken zermalmt, und nur hier und da
waren noch ein paar verwelkte Blumen zu
erspähen. Er sinnierte darüber, was ihm
angetan worden war, und wir blickten auf das
Werk einer perfiden Bestrafung, die aufgrund
von Vergehen erfolgte, die Tukans
verhaftetem Sohn zugeschrieben wurden. Wir
ahnten damals nicht, dass diese Maßnahme
später vom Obersten Gericht legalisiert
werden sollte.
Ich verspürte
den übermächtigen Drang, Tukan zu sagen,
dass dies nicht das einzige Gesicht meines
Volkes sei. So entstand die erste Spalte
„Aus meinem Tagebuch“, die in „Zo Haderech“
und in „Al Ittihad“ unter dem Titel „An
meinen Bruder Hamsi Tukan“ veröffentlicht
wurde. Der Tag würde kommen, an dem Tukan
ein neues Haus bauen und wieder Blumen
pflanzen könnte, die in allen Farben blühen
würden.
Einige Tage
nach der Veröffentlichung, als ich gegen
Abend nach Hause zurückkehrte, hörte ich
plötzlich ein Geschrei aus dem
gegenüberliegenden Haus, das, als ich
bereits zu meiner Wohnung hinaufging, immer
lauter wurde.
„Da schau sie
an, dieses Miststück, diese Verräterin!
Dieser dreckige Araber ist ihr Bruder! Soll
sie doch zu ihm nach Nablus gehen, wir
brauchen sie hier nicht!“
Das Schreien
lockte die Nachbarn auf ihre Balkone, und
wenn jemand noch nicht gewusst hatte, wovon
die Rede war, so erhielt er von der
schreienden Nachbarin und ihrem Mann, der
sie dabei unterstützte, Aufklärung: „Sie
schreibt, dass dieser Terrorist aus Nablus
ihr Bruder ist, und nennt sich auch noch
Jüdin!“
Ich trat mit
Michael, der ganz blass vor Aufregung war,
auf den Balkon hinaus. Die Gesichter meiner
Nachbarn waren verzerrt, wie ich es noch nie
gesehen hatte. Ich versuchte, etwas zu
sagen, aber meine Worte gingen in der Flut
von Beschimpfungen und den hysterischen
Schreien unter.
„Verschwinde
aus diesem Haus“, brüllten sie, „wir dulden
nicht, dass due hier wohnst! Möchtest du,
dass wir diesem Araber Blumen pflanzen? Du
kannst solche wie die hier auf deinem Grab
haben!“
Und sie
zeigten auf die gepflegten Beete in meinem
Hofanteil. Manche Nachbarn stimmten in die
Beschimpfungen mit ein, manche schauten nur
zu und lauschten. Niemand intervenierte zu
meinen Gunsten.
Die ganzen
Jahre hindurch wurden alle meine Bewegungen
von durch bohrenden, hasserfüllten Blicken
begleitet, hin und wieder fiel auch ein
Fluch. Und ich ging mit demonstrativ
hocherhobenem Kopf vorbei, obwohl sich
jedesmal etwas in meinem Inneren
zusammenzog. Wenn ich Glück hatte, begegnete
ich auch der Clique von Jugendlichen nicht,
die immer, wenn ich an ihnen vorbeiging, in
meine Richtung spuckten.
1968 besuchte
ich auf meiner Reise nach Israel und
Ost-Jerusalem auch den palästinensischen
Schriftsteller und Dichter Mahmud Shukeiri.
Wir hatten eine „gemeinsame Vergangenheit“,
insofern wir 1975 gemeinsam daran
scheiterten, seine Deportation aus seiner
Heimat zu verhindern. Erst 1994, nach vielen
Jahren Exils in Jordanien, durfte er in
seine Heimat zurückkehren. In „Lasst uns wie
Menschen leben“ Schein und Wirklichkeit in
Palästina beschreibe ich unser Treffen
(Seite 68):
Er begann mir
zu erzählen, wie im Mai 1995 das Haus seiner
Schwester in Djebel Mukaber zerstört worden
war. Das Haus, eigentlich ein Anbau zu einem
bestehenden Haus, war 1993 vor der
Zerstörung erbaut worden, nachdem sich die
Familie vergrößert hatte.
Die
Stadtverwaltung erteilt den arabischen
Bewohnern keine Baugenehmigungen, denn man
hat beschlossen, dass dies eine Grünfläche
sei. Die Grünfläche ist allerdings keine
Grünfläche mehr, sobald man sie zum Bau
einer Siedlung nutzen will. Für einen
Palästinenser ist es ein nahezu unmögliches
Unterfangen, eine Baugenehmigung zu
erhalten, und daher bauen die Leute aus
purer Verzweiflung ohne Genehmigung.
Der damalige
Bürgermeister Ehud Olmert versprach, so
wurde gesagt, dass ein Anbau an ein
bestehendes Gebäude abgerissen werde, er sei
sich der Wohnungsnot bei uns bewusst.
Ich werde dir
nichts über die juristischen Schritte
erzählen, Felicia, die mein Schwager und
meine Schwester unternahmen, um den Abriss
zu verhindern, sondern nur über den Tag
sprechen, an dem der Bulldozer kam, der
zuerst ein paar Olivenbäume entwurzelte, um
an das Haus heranzukommen, und wie er dann
sein Werk der Zerstörung begann. Mein
Schwager war nicht zu Hause. Sein Sohn
versuchte, den Vorgang zu fotografieren. Die
Soldaten vom Grenzschutz verprügelten ihn
und zerbrachen seine Kamera. Er war
verletzt, die Nachbarn brachten ihn ins
Krankenhaus.
Meine
Schwester alarmierte mich per Telefon. Ich
kam hin, war sehr erregt, aber hilflos. Das
Gebiet war völlig umzingelt von den
Grenzschutztruppen, um jede Art von
Unterstützung oder Solidaritätsäußerung zu
unterbinden.
Am gleichen
Tag zerstörten sie noch ein Haus in der
Gegend. Wenn du wüsstest, wie zornig diese
geknebelten Menschen sind, dass man sie
stranguliert, während sie die nahegelegene
jüdische Siedlung Armon Hanaziv blühen
sehen. Obwohl auch wir Steuern zahlen,
erhalten wir die schlechtesten
Dienstleistungen und die Siedlungen den
besten Service!“
Ich habe in
meinem Buch „Quo vadis Israel?“ Die neue
Intifada der Palästinenser (2001) über die
israelische Praxis der Zerstörung von
palästinensischen Häusern geschrieben:
Die zerstörenden Hände
Ich verfüge
über eine große und traurige Erfahrung über
die israelische Praxis der Zerstörung von
palästinensischen Häusern, die ohne amtliche
Erlaubnis in den besetzten Gebieten gebaut
worden sind. Ich führte lange, vergebliche
Prozesse, um für Palästinenser eine
Genehmigung zu erstreiten, auf ihrem eigenen
Land ein Haus bauen zu dürfen. Daher kenne
ich die grausame Methode sehr gut, die
palästinensische Bevölkerung zu
strangulieren, indem man die wachsenden
Familien daran hindert, mehr Platz zum
Wohnen zu erhalten. Die palästinensische
Zeitung „Peoples Rights“ veröffentlichte
eine Untersuchung von Kiran Young und Uda
Walker über die Auswirkungen der
Häuserzerstörung auf palästinensische
Kinder. In ihr wird auch die israelische
Politik der Verweigerung von Genehmigungen
erklärt:
„In den
meisten Gesellschaften gibt es Gesetze,
welche die Bautätigkeit und die Vergrößerung
von privatem Eigentum regeln. In vielen
Ländern verlangt man von den Hausbesitzern,
dass sie für den Ausbau und Neubau
Genehmigungen einholen. In Israel verhält
sich das nicht anders. Das Bauen ohne
Genehmigung ist nach israelischem Recht in
der Tat illegal. Wenn man sich jedoch die
Gesetze näher ansieht, dann wird deutlich,
dass diese Gesetze absichtlich manipuliert
worden sind, um das palästinensische Bauen
und das natürliche Wachstum (der
Bevölkerung) einzuschränken.
Fast alle
palästinensischen Häuser, die zerstört
worden sind oder bei denen eine Anordnung
zur Zerstörung droht, liegen in der Nähe von
illegalen israelischen Siedlungen, nicht
weit von Umgehungsstraßen, unweit der
‚Grünen Grenze‘ (die Israel vom
Westjordanland trennt) oder in der Nähe von
israelischen Militäreinrichtungen. Manche
liegen auf dem Weg geplanter Umgehungstraßen
und auf Land, das für die Erweiterung einer
Siedlung vorgesehen ist. Einige
(palästinensische) Häuser wurden auf einem
Landareal gebaut, das Israel als
‚Staatsland‘ , als ‚Grünes Gebiet‘ oder aber
als Land gekennzeichnet hat, das keiner Zone
angehört, oder als Land, das für die
Landwirtschaftszone vorgesehen ist, oder als
Land, das Zwecken der Sicherheit dient. Will
ein Palästinenser ein Haus in einem dieser
Gebiete bauen, wird man ihm eine Genehmigung
verweigern. (…) Letztendlich bleibt den
Palästinensern keine andere Wahl, als
illegal zu bauen, um dem
Bevölkerungswachstum Herr zu werden.
Palästinensische Kinder erleben nicht
selten, dass ihre Eltern oder andere
Familienmitglieder von israelischen Soldaten
oder der Polizei geschlagen werden, weil sie
sich der Zerstörung ihres Hauses
widersetzen. In vielen Fällen werden
Familienmitglieder verhaftet und angeklagt.
Oft werden die Spielsachen der Kinder und
ihre persönlicher Besitz unter den Trümmern
begraben. Plötzlich verändert sich ihr
ganzes Leben, die Sicherheit und Zuflucht
des Hauses gibt es nicht mehr, ja, es gibt
auf einmal nicht mal mehr ein Dach über
ihrem Kopf…“
Die Lage der
Palästinenser hat sich während all der
letzten Jahre bis heutzutage nicht
verbessert. Im Gegenteil, nicht nur das
natürliche Wachstum der Ortschaften, das bei
israelischen Siedlungen immer als Grund für
Erweiterung angeführt wird, wird massiv
eingeschränkt, sondern auch der Zugang zu
den landwirtschaftlich genutzten Flächen,
dabei bildet Landwirtschaft immer noch die
Lebensgrundlage für einen Großteil der
palästinensischen Bevölkerung. Dagegen
wachsen und gedeihen die israelischen
Siedlungen, auf palästinensischem Boden
gebaut, die nach dem Völkerrecht illegal
sind.
Die
Palästinenser leiden nunmehr seit fast
fünfzig Jahren unter der
völkerrechtswidrigen israelischen Besatzung
und die zerstörerische Gewalt dieser
Besatzung gegen das palästinensische Volk
nimmt nicht ab, sondern ist weiter voll im
Gange. – Und die Welt schweigt…
Wie lange
noch?