Die Zionistische Revolution
ist tot
Eine andere Übersetzung:
Eine
gescheiterte israelische Gesellschaft stürzt zusammen
Ein früherer Knesset-Sprecher über
israelische Illusionen
von Avraham Burg
Yediot Aharonot
Avraham
Burg war von 1999 bis 2003 Sprecher der israelischen Knesset. Burg ist
ehemaliger Vorsitzender der Jewish Agency for Israel. Derzeit ist er
Knesset-Abgeordneter der Arbeitspartei. Dieses Essay wurde von Burg auf
Grundlage seines in der (israelischen Zeitung) Yediot Aharonot
abgedruckten Artikels verfasst.
Die Zionistische
Revolution stützte sich von jeher auf zwei Pfeiler: auf den gerechten Weg
und eine ethische Führung. Nun funktioniert beides nicht mehr. Heutzutage
stützt sich die israelische Nation auf ein Gerüst der Korruption und auf
ein Fundament der Ungerechtigkeit und Unterdrückung. So gesehen steht das
Ende des Zionistischen Projekts bereits vor der Tür. Gut möglich, dass wir
die letzte Zionistische Generation sind. Vielleicht gibt es dann noch
einen jüdischen Staat hier - aber er wird anders sein, fremdartig und
hässlich. Noch ist Zeit, das Ruder rumzureißen - aber nicht mehr lange.
Was wir brauchen, ist eine neue Vision - die Vision einer gerechten
Gesellschaft und den politischen Willen, sie auch umzusetzen. Und es ist
keine rein inner-israelische Angelegenheit. Auch Juden der Diaspora - für
die Israel zentraler Pfeiler ihrer Identität ist -, müssen sich der Sache
annehmen und den Mund aufmachen. Denn, wenn der Stützpfeiler kollabiert,
fallen auch die oberen Stockwerke in sich zusammen. Eine Opposition
existiert nicht, und die Koalition, unter Führung Arik Scharons, nimmt für
sich das Schweigerecht in Anspruch. In einer redesüchtigen Nation sind
plötzlich alle verstummt, offensichtlich ist alles gesagt.
Wir leben in einer
gewaltigen (aber) gescheiterten Realität. Ja, wir haben die hebräische
Sprache zu neuem Leben erweckt, wir haben ein tolles Theater und eine
starke Nationalwährung geschaffen. Unser jüdischer Verstand arbeitet
schärfer denn je. Wir sind sogar Nasdaq-gehandelt. Aber haben wir deshalb
einen Staat gegründet? Das jüdische Volk hat nicht zwei Jahrtausende
überlebt, um zum Waffenpionier zu werden, zum Pionier von
Computersicherheitsprogrammen u. Anti-Raketen-Raketen. Wir sollten das
Licht der Nationen sein - aber damit sind wir gescheitert. Scheint so, als
münde der 2000-jährige Kampf für das jüdische Überleben in einen Staat der
Siedlungen, der von einer unmoralischen Clique korrupter Gesetzesbrecher
regiert wird - taub sowohl gegenüber den Feinden als auch gegenüber den
eigenen Bürgern. Ein Staat, in dem es an Gerechtigkeit fehlt, kann nicht
überleben. Mehr und mehr Israelis begreifen das, wenn sie ihre Kinder
fragen, wo sie in 25 Jahren leben werden. Sind die Kinder ehrlich, sagen
sie, sehr zum Schock der Eltern, sie wüssten es nicht. Der Countdown läuft
- der Countdown zum Ende der israelischen Gesellschaft.
Es ist sehr angenehm, Zionist zu sein und in einer Westbank-Siedlung wie
Beit El oder Ofra zu leben. Die biblische Landschaft ist bezaubernd. Durch
das Fenster sieht man auf die Geranien und die Bougainvillea
(Kletterstrauch) und kann die Okkupation ignorieren. Jemand der auf der
rasanten Schnellstraße von Ramot (am nördlichen Rand Jerusalems) nach Gilo
(südlicher Rand Jerusalems) fährt - ein 12-Minuten-Trip, keine halbe Meile
westlich der Straßenblockaden für Palästinenser - der wird kaum begreifen,
welche demütigende Erfahrung einer dieser verhassten Araber macht, wenn er
(im Auto) stundenlang über blockierte, pockennarbige Straßen kriecht - auf
Straßen, die ihm zugewiesen sind. Es gibt Straßen für Besatzer und Straßen
für Besatzte. Aber das kann nicht funktionieren - nicht einmal, wenn die
Araber sich ducken und Wut und Schande für immer schlucken. Es
funktioniert nicht. Eine Struktur, die auf menschliche Gleichgültigkeit
aufgebaut ist, wird unverweigerlich in sich zusammenbrechen.
Merkt euch diesen
entscheidenden Moment gut: die Überstruktur des Zionismus ist schon am
Kollabieren - sie fällt in sich zusammen wie ein billiger Jerusalemer
Hochzeitssaal. Und nur Verrückte tanzen im Obergeschoss weiter, während
unten die Pfeiler zusammenstürzen. Wir haben uns daran gewöhnt, das Leid
der Frauen an den Straßensperren zu ignorieren. Wundern wir uns also
nicht, dass wir auch die Schreie der misshandelten Frau in unserer
Nachbarschaft überhören oder den Kampf der alleinstehenden Mutter, die
versucht, ihre Kinder mit Würde großzuziehen. Wir machen uns ja noch nicht
mal die Mühe, all die Frauen zu zählen, die von ihren Ehemännern ermordet
werden. Israel interessiert sich nicht mehr für die Kinder der
Palästinenser. Es sollte sich also nicht wundern, wenn sie von Hass
durchdrungen zu uns kommen und sich in den Zentren des israelischen
Eskapismus in die Luft sprengen. Sie geben sich an den Orten unserer
Rekreation in Allahs Hand, denn ihr eigenes Leben ist eine Qual. In
unseren Restaurants vergießen sie ihr Blut, um uns den Appetit zu
verderben. Ihre Eltern und Kinder zu Hause sind hungrig und entwürdigt.
Wir könnten jeden Tag tausende Rädelsführer und Ingenieure töten, ohne
dass sich etwas ändert. Denn die Führung wächst von unten herauf - aus den
Quellen der Wut und des Hasses, der “Infrastruktur” der Ungerechtigkeit
und der moralischen Korruptheit. Ich würde schweigen, wäre dies alles
wirklich unausweichlich, gottgewollt u. unabänderlich. Aber es ginge auch
anders. Der Aufschrei wird zum moralischen Imperativ. Diese Worte sollte
der (israelische) Premierminister an sein Volk richten:
"Die Zeit der Illusionen ist vorbei. Jetzt ist Zeit für Entschlüsse.
Natürlich lieben wir das ganze Land unserer Vorväter. Und in einer anderen
Zeit würden wir es vorziehen, allein darin zu leben. Aber das wird nun
einmal nicht geschehen. Auch die Araber haben Träume und Bedürfnisse.
Zwischen Jordan und Mittelmeer existiert keine klare jüdische Mehrheit
mehr. Daher, meine Mitbürger, können wir nicht alles für uns behalten -
oder wir müssen den Preis zahlen. Wir können die palästinensische Mehrheit
nicht unter dem israelischen Stiefel halten und gleichzeitig glauben, wir
seien die einzige Demokratie im Nahen Osten. Es gibt keine Demokratie ohne
gleiche Rechte für alle Menschen, die hier leben - Araber wie Juden. Wir
können nicht die Territorien behalten und gleichzeitig unsere jüdische
Mehrheit behalten - im einzigen Staat, den die Juden auf der Welt haben -,
nicht, wenn wir menschliche Mittel einsetzen, moralische Mittel, jüdische
Mittel. Oder wollt ihr Großisrael?
Kein Problem,
dann muss die Demokratie weg und wir institutionalisieren ein effizientes
Rassentrennungs-System - mit Gefängnislagern und Gefängnisdörfern:
Qalqilya-Getto, Dschenin-Gulag. Ihr wollt eine jüdische Mehrheit? Auch
kein Problem. Dann steckt die Araber in Züge, Busse, setzt sie von mir aus
auf Kamele und Esel und schmeißt sie massenhaft raus. Oder - wir
separieren uns konsequent von ihnen und zwar ohne Tricks und Kniffe. Es
gibt keinen Mittelweg. Wir müssen alle Siedlungen auflösen - alle. Es muss
eine international anerkannte Grenze gezogen werden zwischen dem
israelischen Nationalstaat und einem palästinensischen Nationalstaat. Das
jüdische Rückkehrrecht gilt dann nur noch innerhalb unseres nationalen
Gebildes und das palästinensische nur innerhalb der Grenzen des
(künftigen) Palästinenserstaats. Ihr wollt Demokratie? Kein Problem.
Entweder, ihr gebt die Idee von Großisrael auf - und zwar bis zum letzten
Außenposten, bis zur letzten (jüdischen) Siedlung - oder ihr gewährt allen
volles Bürgerrecht und das Wahlrecht, auch den Arabern. Die Folge von
Letzterem wäre allerdings, dass diejenigen, die keinen Palästinenserstaat
neben uns wollen, nun einen in unserer Mitte hätten - via Wahlurne".
Diese Worte sollte ein Premier an unser Volk richten. Die Alternativen
sollten klipp und klar sein: jüdischer Rassismus oder Demokratie,
Siedlungen oder Hoffnung für beide Völker, falsche Visionen, die zu
Stacheldraht, Straßensperren und Selbstmordbombern führen oder eine
anerkannte internationale Grenze zwischen zwei Staaten und eine geteilte
Hauptstadt Jerusalem. Aber es gibt keinen (solchen) Premierminister in
Jerusalem. Jene Krankheit, die am Organismus des Zionismus nagt, hat
bereits den Kopf erreicht. David Ben-Gurion hat sich in manchen Dingen
geirrt, aber er war geradlinig wie ein Pfeil. Und wenn Menachem Begin sich
irrte, standen seine Motive nie in Zweifel. Das hat sich geändert.
Umfragen vom letzten Wochenende zeigen, eine Mehrheit der Israelis glaubt
nicht an die persönliche Integrität des Premiers - dennoch vertrauen sie
seiner politischen Führerschaft. Man könnte sagen, der derzeitige
israelische Premierminister vereinigt in sich beide Seiten des Fluchs:
Seine persönliche Integrität ist zweifelhaft, seine Nichtbeachtung des
Gesetzes offenbar - und das kombiniert (er) mit der Brutalität der
Okkupation und dem Niedertrampeln aller Friedenschancen. So sieht unsere
Nation aus, so ihre Führerschaft. Der unausweichliche Schluss: die
Zionistische Revolution ist tot.
Aber warum verhält sich die Opposition so still? Vielleicht, weil Sommer
ist, vielleicht, weil sie müde ist. Vielleicht möchten manche ja auch um
jeden Preis selbst in die Regierung - auch wenn der Preis darin besteht,
bei dieser kranken Sache mitzumachen. Und während sie zögern, verlieren
die Kräfte des Guten ihre Hoffnung. Es ist Zeit für klare Alternativen.
Jeder, der es ablehnt, klar Position zu beziehen - schwarz oder weiß -
kollaboriert de facto mit dem Niedergang. Es geht nicht mehr um Likud
gegen Arbeitspartei, Rechte gegen Linke, es geht um richtig oder falsch,
akzeptabel oder inakzeptabel, um Gesetzestreuer oder Gesetzesbrecher. Es
geht nicht um politischen Ersatz für die Regierung Scharon, was wir
vielmehr brauchen, ist eine Vision der Hoffnung. Wir brauchen eine
Alternative zur Destruktion des Zionismus und seiner Werte durch die
Tauben, die Stummen und die Gleichgültigen. Auch Israels Freunde im
Ausland sollten jetzt ihre Wahl treffen - Juden wie Nichtjuden,
Präsidenten und Premierminister, Rabbis und Laien. Sie müssen die Hände
ausstrecken und Israel helfen, damit Israel mithilfe der Straßenkarte
(Roadmap) den Weg navigiert zu unserem nationalen Ziel: das Licht der
Nationen zu sein und eine Friedensgesellschaft, eine Gesellschaft der
Gerechtigkeit und der Gleichheit.
/ Quelle ZNet 03.09.2003 |
Ein Interview mit Avraham
Burg
Avi Shavit,
Haaretz, 14.11.03
(siehe zuerst: Avraham Burg, Die Zionistische Revolution ist tot,
Auf
einmal erscheint zum Ende des Sommers die israelische Linke wieder-
nachdem sie drei Jahre lang geschlafen hat. Nach drei Jahren Schock,
Lähmung und dem Verlust ihres Weges erwacht nach dem Zusammenbruch der
Hudna (Waffenstillstand) die israelische Linke zu neuem Leben.
Auch
Avraham (Avrum) Burg erwacht zu neuem Leben. Zwei Jahre nachdem er den
Kampf um die Führung der Laborpartei verloren hat, und ein halbes Jahr,
nachdem er die angenehme Position des Knessetsprechers verloren hat,
wachte Burg an einem Augustmorgen auf, hatte im Morgendämmern ein Gespräch
mit seiner Frau Yael, einer Radikalen, und entschied, dass es unmöglich
sei, so weiterzumachen wie bisher. Es muss etwas getan, ja es muss etwas
gesagt werden. Es war Zeit, die Welt aufzurütteln. Um halb sechs ging er
in sein Büro, von dem er auf die Judäischen Hügel blicken kann. Innerhalb
einer knappen Stunde tippte er in seinen Laptop 1000 Wörter, die in der
jüdisch-zionistischen Welt im Laufe des nächsten Monats für Furore sorgte.
Der
hebräische Artikel wurde mit „Zionismus jetzt“ überschrieben. Auf
Englisch ( im Forward, 29.August 2003 und in International Herald Tribune,
6.September 2003) hieß der Titel „ Eine verfehlte israelische Gesellschaft
bricht zusammen“. Auch im Französischen und Deutschen konnte man eine
außerordentlich harte Anklage gegenüber dem zionistischen Staat lesen, die
von jemandem geschrieben war, der bis vor noch nicht langer Zeit die
zionistische Bewegung anführte.
Er
ist ein sehr tatkräftiger Bursche, der Avrum. Mit 48 ist er leichtfüßig
und zuweilen auch zerstreut ( light of foot and sometimes light of mind)
und ein wenig hyperaktiv. Er nimmt schnell auf und reagiert mit schnellen
Antworten. Er besitzt viel vom Charme israelischer Gradheit. Er ist ein
sprachgewandter Politiker mit bissigen Schlagworten. In der Vergangenheit
halfen ihm die Schlagworte, den Weg in die oberste Etage des israelischen
Establishments, in die Mitte der satten Elite, zu ebnen, die sich ein
wenig nach links vom Zentrum neigt. Seine Schlagworte sind scharf und nun
fast apokalyptisch. Es sind die Schlagworte von jemandem, der von der
Machtetage nun zur Protestetage kommt, von der politischen zur moralischen
, aus der Grauzone zum Licht, das kein Argument verträgt.
Will
er die harschen Dinge, die er gesagt hat, zurückziehen? Beunruhigt ihn,
dass hartnäckige Israelhasser seine Bemerkungen missbrauchen. Nicht im
geringsten. Während er im angenehmen Wohnraum seines Hauses in Nataf
sitzt, sagt Burg, dass er wie nie zuvor mit sich im Reinen ist. Erst jetzt
wird ihm klar, wie wenig er die Person mochte, die er innerhalb des
politischen Mahlwerks geworden ist. Erst jetzt versteht er, dass die
aufgeplusterten, herrschenden Kreise, die ihn verhätschelten , ihn auch
moralisch abstumpfen ließen und ihn von sich selbst distanzierten. Jetzt
überkommt ihn ein Gefühl großer innerer Ruhe, ein Gefühl von Frieden. Und
er wird weiter die harten Dinge sagen, die er über Israel, ohne zu zögern
oder zurückzuschrecken, aussprach – mit einem Lächeln auf den Lippen.
Ihr
Artikel sorgt in der jüdischen Welt für Furore. Viele Leute hatten das
Gefühl, dass der frühere Vorsitzende der Zionistischen Bewegung die rote
Linie überschritten hat und ein Post-Zionist geworden ist.
Burg:
„Selbst als ich der Vorsitzende der zionistischen Bewegung war, war ich
nicht in der Lage zu sagen, was ein Zionist und was ein Post-Zionist ist.
Meine Weltanschauung erlaubt mir nicht, die Orthodoxie zu akzeptieren,
weder die jüdische noch die zionistische. Falls Zionismus deshalb heute
Groß-Israel bedeutet, dann bin ich nicht nur ein Post-Zionist, sondern ein
Anti-Zionist. Falls Zionismus Netzarim und Kiryat-Arba bedeutet, dann bin
ich ein Anti-Zionist. Ich akzeptiere nicht die Art von Zionismus, die das
Judentum mit all seiner wunderbaren Schönheit nimmt und es in einen Kult
von Bäumen und Steinen verwandelt. Wenn ich heute um mich schaue, dann
habe ich das Gefühl, dass Netzarim zu einem Altar, Gott zu einem Moloch
und unsere Kinder zu Opfern geworden sind, menschliche Opfer eines
schrecklichen Götzendienstes.“
Interview:
In Ihrem Artikel beschreiben Sie Israel als einen dunklen und grausamen,
nationalistischen Staat. Haben sie das Gefühl, dass Israel im Begriff ist,
ein neues Süd-Afrika zu werden? Dass die Israelis die neuen weißen
Afrikaner sind?
„Wir
leben in einem Land, das sich in einem Prozess des moralischen Verfalls
befindet. Was mir am meisten Angst macht, ist, dass wir nicht merken, dass
wir solch einen Prozess durchmachen. Ohne dies zu beachten, entfernen wir
uns dauernd von uns selbst, hier ein wenig und dort ein wenig – immer
weiter von dem Ort, an dem wir waren. Plötzlich greift ein F16
Kampfflieger ein Gebäude an, in dem unschuldige Leute leben – und einige
Armeebefehlshaber sagen, dass sie trotzdem gut schlafen könnten. Was
geschieht, ist folgendes: wir nähern uns immer mehr unsern Feinden an. Wir
verlieren das Gefühl und die Sensibilität, die unser Gewissen war.
„In
den Straßen unserer Stadt sehe ich Slogans: Tod den Arabern!, die unsere
Stadtbehörden nicht mehr entfernen. Ich sehe schreckliche Graffiti –
rassistische und kahanistische – die wir lässig akzeptieren. Wir bemerken
sie nicht einmal mehr. Der krebsartige Prozess verschlingt uns. Die durch
die Siedler und den rechten Flügel pervertierte zionistische Form hat
schließlich jeden Teil unseres Lebens erreicht und keinen Raum
übriggelassen, der nicht vom nationalistischen Bewusstsein erfüllt ist.
Wenn sich nicht unsere letzten gesunden Zellen erheben und sich gegen den
Virus auflehnen, werden wir nicht länger existieren. Wir werden einfach
aufhören zu existieren.“
Ist es schon so weit? Sehen Sie einen Prozess der Zerstörung? Glaubt der
frühere Vorsitzende der Zionistischen Bewegung wirklich, dass der
Zionismus tot ist?
„Der
augenblickliche Weg führt uns dorthin. Wir mögen vielleicht Israelis
bleiben oder Juden. Aber wir werden keine Zionisten sein, die den
Zionismus fortführen, die den Staat gründeten.
Nur
zwei einfache Beispiele: Passt der Staat in die Konturen, die Theodor
Herzl ins Auge gefasst hatte? Nein. Erfüllt der Staat Israel noch die
Kriterien und Werte, von denen in der Unabhängigkeitserklärung die Rede
ist? Nein. Das ist die Wahrheit. Das ist die Grundwahrheit, von der wir
uns in den vergangenen 35 Jahre entfernt haben.“
In dem, was Sie sagen, finde ich zwei Dimensionen: eine moralische und
eine apokalyptische.
„Genau. Das ist meine Gemütsverfassung. Ich denke, der nationalistische
Zionismus hat uns an schreckliche Orte gebracht, von denen es für uns sehr
schwierig ist, sich zurückzuziehen. Sehen Sie, es ist für mich jedes Mal
eine Qual, wenn meine Kinder durch den Stadtteil von Jerusalem gehen, wo
die Attentate im Hillel-Cafe geschahen. Auf der andern Seite habe ich
wirklich Angst vor dem Tag – und er ist nicht mehr fern – wenn das
palästinensische Kind geboren wird, das die Juden in diesem Land zu einer
Minderheit werden lässt. Was werden wir dann tun? Was werden wir tun, wenn
wir nicht mehr die Entschuldigung und Stärke der Mehrheit haben?
„Ich
denke, jede Generation hat ihre sie prägende Wahrheit. Und die prägende
Wahrheit dieser Generation heißt, zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer
werden die Juden eine Minderheit. Damit müssen wir fertig werden. Aber der
Regierung Israels und den israelischen Politikern gelingt es nicht, mit
dieser Wahrheit fertig zu werden. In den vergangenen drei Jahren sind wir
in einen Zustand von stummem Schock geraten. In eine Situation ohne Worte.
Da gibt es einfach nichts zu sagen. Deshalb schrieb ich den Artikel. Weil
ich zu dem Schluss gekommen bin, dass wir in den vergangenen drei Jahren
nichts gesagt haben.“
Während Ihrer politischen Karriere haben Sie einen sicheren starken
Optimismus ausgestrahlt, der zuweilen ein wenig unreif ein andermal
leichtsinnig wirkte. Wollen Sie mir nun sagen, Sie seien wirklich zum
Pessimisten geworden? Sehen Sie tatsächlich jetzt alles so düster?
„Wenn
Sie heute Israelis fragen, ob ihre Kinder in 25 Jahren noch hier leben,
werden Sie keine eindeutige positive Antwort erhalten. Sie werden kein
lautes Ja hören. Im Gegenteil: junge Leute werden ermutigt, im Ausland zu
studieren. Ihre Eltern besorgen ihnen europäische Pässe. Jeder sucht nach
Möglichkeiten, im Silicon-Valley in Kalifornien zu arbeiten; jeder, der es
sich leisten kann, kauft ein Haus in London. So entwickelt sich langsam
aber sicher in Israel eine Gesellschaft, die nicht sicher ist, ob die
nächste Generation noch hier lebt. Hier lebt eine ganze Gesellschaft, die
den Glauben an die Zukunft verloren hat.
„Was
hier tatsächlich geschieht, ist, dass die führende israelische
Gesellschaftsklasse kleiner wird, weil sie nicht länger bereit ist, für
die Launen der Regierung zu zahlen. Sie will nicht länger die Last der
Siedlungen bezahlen und die Last der Transfer(Vertreibungs-)kosten. Was
wir aber in der Zwischenzeit bekommen, ist nicht eine Revolution auf der
Straße, sondern eine stille Revolution des Weggehens, der Auswanderung. Es
ist die Revolution, in der man den Laptop und die Disketten einpackt und
auszieht. Wenn Sie also auf- und um sich sehen, dann werden Sie sehen,
dass nur die Leute hier bleiben, die keine anderen Möglichkeiten haben.
Die wirtschaftlich Schwachen und die Fundamentalisten bleiben. Vor unsern
Augen wird Israel ultra-orthodox, nationalistisch und arabisch. Es wird
eine Gesellschaft, die keinen Sinn für Zukunft hat, keine Narrative und
keine Kraft, sich selbst zu erhalten.“
OK – das ist eine Sache, um die man sich mit Recht Sorgen macht. Aber Ihr
Artikel, der um die Welt ging, verwendete Ausdrücke, die fast feindlich
klangen. Sie beschrieben Israel als ein Gebäude, das sich auf menschlicher
Gefühllosigkeit gründet. Sie beschrieben es als Land, das keine
Gerechtigkeit kennt. Sie redeten über die Palästinenser, auf denen
israelische Stiefel herumtrampeln. Das sind schreckliche Ausdrücke –
Ausdrücke einer Person, die sich im Laufe eines Prozesses völlig der
Gesellschaft entfremdet hat, die sie eigentlich vertreten sollte.
„Der
Schmerz erzeugte diese Worte – nicht Feindschaft. Es sind Worte von
schneidender Selbstkritik. Wenn ich über Israel schreibe, schreibe ich
nicht über andere, sondern über mich selbst. Aber ich habe das Gefühl,
dass wir nicht sehen, was vor unserm Fenster passiert. Wenn ich am Morgen
hier in den Hügeln herum um die Gemeinde fahre, in der ich lebe, sehe ich
Kinder im Alter von 8, 10 und 12 Jahren, die auf der Suche nach Arbeit
sind. Und wenn sich ein Jeep der Grenzpolizei nähert, verstecken sich
diese Kinder ängstlich hinter Büschen und Felsen. Deshalb glaube ich,
können wir nicht weiterhin sagen, wir sind wunderbar und moralisch, weil
wir vor 60 Jahren durch den Holocaust gegangen sind. Wir können unmöglich
weiterhin sagen, wir sind wunderbar und moralisch, weil wir 2000 Jahre
lang verfolgt wurden. Wir sind heute in eine schreckliche Realität
verwickelt. Wir sehen schlecht aus, wirklich schlecht.“
Denken Sie, dass Israel ein Staat der Schande geworden ist?
„Nein. Wir sind nicht ein Staat der Schande oder eine üble Gesellschaft.
Aber wir haben das Gefühl für Schändliches verloren. Wir sind gleichgültig
und blind geworden. Wir empfinden nichts mehr und sehen nichts mehr. Erst
letzte Woche besuchte ich ein wohl bekanntes Gymnasium in Jerusalem. Eine
ganze Reihe der Schüler, mit denen ich sprach, erzählten mir schreckliche
Dinge. Sie sagten: wenn wir Soldaten sind, werden wir alte Leute, Frauen
und Kinder töten, ohne uns Gedanken darüber zu machen. Wir werden sie
vertreiben, wir setzen sie in Flugzeuge und fliegen sie in den Irak. Wir
werden Hunderttausende von ihnen ausfliegen. Millionen. Und die meisten
der Schüler im Auditorium klatschten zu diesen Äußerungen Beifall. Sie
unterstützten sie sogar dann, als ich einwarf, so haben die Leute vor 60
Jahren in Europa geredet. Ich bin also wirklich beunruhigt, sogar
alarmiert. Ich glaube, wir verinnerlichen immer mehr eine Norm, die nicht
die unsere ist. Wir werden immer mehr unsern Feinden gleich.
Eine der Kritiken Ihres Artikels ging dahin, Sie würden eine Grenze
überschreiten und damit Israels Feinden dienen.
„Solch eine Kritik ist für mich unwichtig. Ich sehe keinen Israelhasser in
Damaskus oder Malaysia, der deshalb antisemitisch wurde, weil Avrum Burg
dieses oder jenes sagte. Die im Augenblick in der internationalen
Gemeinschaft negative Haltung gegenüber Israel hängt zum Teil mit der
Politik der Regierung Israels zusammen. Wenn also Israelhasser meine Worte
verwenden, so ist das in Ordnung, soweit es mich betrifft. Vielmehr macht
mir Sorge, dass aus Angst vor Israelhassern wir nach außen hin unsere
Wäsche nicht mehr waschen, ja sie überhaupt nicht mehr waschen – und dann
fangen die Dinge zu stinken an. Schauen sie um sich und sehen Sie, wie
sehr schon alles stinkt.“
Wenn Sie in Ihrem Artikel schreiben : Israel, das aufgehört
hat, sich um die Kinder der Palästinenser zu kümmern, sollte nicht
überrascht sein, wenn sie voller Hass kommen, um sich selbst in den
israelischen Zentren der Realitätsflucht in die Luft zu sprengen. Damit
rechtfertigen Sie den Terrorismus. Wenn Sie schreiben: sie vergießen ihr
Blut in unsern Restaurants, um uns den Appetit zu nehmen, da sie zuhause
Kinder und Eltern haben, die hungrig sind und gedemütigt. Damit
rechtfertigen Sie tatsächlich Mord.
„Ich
rechtfertige keinen Terrorismus. Als Bürger Israels und als ein Bürger der
westlichen Welt ist Terrorismus mein Feind. Aber inmitten fürchterlicher
Geräusche von Explosionen, (Geheimdienst-? ER)Untersuchungen und
Verzweiflung hören wir nichts mehr. Wir empfinden nichts mehr. Und ich
sage Ihnen, ich kann nachts nicht mehr schlafen, weil ich mich als
Besatzer fühle. Und ich sage Ihnen, dass hier kein ernst zu nehmender
Krieg gegen Terrorismus geführt wird. Weil Israel den Terrorismus mit dem
Terminus von Tonnen bekämpft. Wie viele Tonnen ließ ich heute gegen den
Terrorismus fallen? Und Tonnagen von Bomben sind kein Krieg gegen Terror.
Es ist Ausdruck einer Politik der Rache, die die niederen Instinkte der
öffentlichen Meinung befriedigen soll.
„Ich
möchte gerne, dass Sie mich verstehen. Es ist mir klar, dass wir Krieg
gegen Terrorismus führen müssen. Aber ein Krieg gegen Terrorismus verläuft
wohl überlegt, kühn und raffiniert, nicht laut. Es ist kein Festival mit
Erklärungen, um sie immer und immer wieder zu treffen. Ein Krieg gegen
Terrorismus kann auch keinen Erfolg haben, wenn man nicht die Fenster
öffnet und der anderen Gesellschaft ein wenig Hoffnung zu atmen erlaubt.
Solange Israel nur brutale Gewalt anwendet, ohne irgendeine Hoffnung zu
erzeugen, bekämpft sie nicht die wahre Struktur des Terrors. Es ist
endlich Zeit, dass wir verstehen, dass nicht alle Palästinenser
Terroristen und nicht alle Palästinenser Hamas sind, und dass einige
dieser Leute uns bekämpfen, weil Israel so gleichgültig ist.“
Wenn es so ist, dann trägt Israel die Verantwortung für einen
Selbstmordattentäter, der sicht im Cafe Hillel in die Luft sprengt und für
eine Terroristin, die sich im Maxim-Restaurant in Haifa in die Luft
sprengt.
„Ich
gehe mit meiner Familie ins Hillel-Cafe. Ich besuche an Neujahr den
Besitzer des Maxim Restaurants. Wenn sich ein Selbstmordattentäter an
solchen Orten in die Luft sprengt, dann ist er dabei, auch mich zu töten.
Er kann nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden. Wenn er sich in die
Luft sprengt, greift er uns alle an. Für mich ist klar, dass von dem
Augenblick an, wo er sich einen Gürtel mit Sprengstoff umlegt, es meine
Pflicht ist, ihn zu töten. In diesem späten Augenblick ist er die Person,
die ich töten muss, bevor sie mich tötet.
„Was
ich sagen möchte, ist, dass diesem Terrorakt lange vorher
entgegengearbeitet werden sollte. Und was ich mich selbst frage: hat
Israel in den zwei Jahren vorher genug getan, um den Angriff zu
verhindern. Ich frage mich auch, ob Israel genug tut, damit ein Kind, das
jetzt zwei Jahre alt ist, sich nicht in 15 oder 20 Jahren in die Luft
sprengt? Wir haben die Verantwortung in diesem Gebiet. Selbst wenn 60% der
Verantwortung bei den Palästinensern liegt und nur 40 % bei uns, tragen
wir 100% der Verantwortung.
„Nach
drei Jahren Krieg kann ich unseren Teil nicht ignorieren, der den Frieden
verhinderte. Ich kann auch nicht die Tatsache ignorieren, dass in unserm
Kabinett heute Kriegsminister sitzen. Einer von ihnen will Krieg mit
Damaskus, ein anderer wünscht Krieg mit der ganzen arabischen Welt und der
dritte liebt nur den Krieg. Ich fühle in mir die Pflicht, eine Art von
Alternative zur Politik der Verzweiflung und Gewalt zu schaffen. Ich
denke, es ist sehr gefährlich, unser Schicksal denen anzuvertrauen, die
nicht begreifen wollen, dass Frieden nur zu unserm Besten dient. Frieden
ist das allerbeste Mittel für Sicherheit.“
Der Versuch, eine Alternative zu schaffen, führte Sie nach Genf.. Aber als
Sie und Ihre Freunde die Genfer Abmachungen formulierten, gaben Sie dem
palästinensischen Terror nach. Sie waren damit einverstanden, den
Palästinensern zu geben, was sie nicht vor deren Intifada erhielten – den
Tempelberg z.B.
„Ich
brauchte drei Wochen, bis ich mit dem Entwurf der Genfer Abmachungen
einverstanden war. Es war hart für mich; denn in der Vergangenheit war ich
tatsächlich gegenüber ( dem früheren Ministerpräsidenten) Barak kritisch
wegen dessen Konzessionen in Jerusalem. Aber es stimmt, ich habe mich
geändert. Meine Angst vor der Zerstörung Israels ist heute so eindeutig,
dass ich bereit bin, größere Konzessionen zu machen. Ich setze all meine
Kraft für die einzig wichtige Aufgabe ein, Israel vor ( den Auswirkungen)
der Besatzung zu retten, um den Zionismus zu retten.
„Ich
fand in den Abmachungen zwei wesentliche Dinge. Das eine ist, dass wir das
Symbol des Tempelberges aufgeben – während sie das Symbol des Rechtes auf
Rückkehr aufgeben. Das ist ein enormer Austausch von Symbolen und von
ungeheurer Bedeutung. Das andere ist die Erweiterung des
Erstickungsgürtels ( suffocation belt) rund um Jerusalem gegen die
Erweiterung des Erstickungsgürtels rund um Gaza. Am Ende dachte ich, dass
dies ein passender Ausgleich von Symbolen ist: Jerusalem gegen Gaza.“
Was Sie da sagen, klingt zwar ganz gut – ist aber ungenau. Nach dem Genfer
Entwurfsdokument verzichtet Israel ausdrücklich auf den Tempelberg, die
Palästinenser verzichten aber nicht ausdrücklich auf das Recht der
Rückkehr.
„Wir
dürfen Träume nicht mit praktisch Durchführbarem verwechseln. Genau wie
kein Palästinenser auf den Traum von Groß-Palästina verzichten will, so
habe auch ich nicht den Traum des Tempelbaus aufgegeben. Aber die von uns
gemeinsam gefasste Entscheidung erlaubt nicht, dass diese Träume konkrete
Politik werden. Wir entschieden, dass im Rahmen konkreter Politik, die
Juden den Tempel nicht in diesem Gebiet bauen und die Palästinenser nicht
nach Jaffa zurückkehren werden. Das ist der springende Punkt der
Abmachung: Traum gegen Traum, Realisierbares gegen Realisierbares.“
Trotzdem, wenn wir die Genfer Abmachung mit Ihrem Artikel zusammennehmen,
wird deutlich, dass Sie einen Prozess politischer Radikalisierung
durchgemacht haben. Vor zwei Jahren waren Sie Vorsitzender der
Labor-Partei auf der Basis einer fast gemäßigten Plattform, und nun sind
Sie am äußersten linken Rand. Haben Sie sich wirklich derart verändert
oder haben Sie seitdem eine total spöttische, öffentliche Kampagne
durchgeführt?
„Beides. Nach dem Streit in der Laborpartei besann ich mich und
analysierte, was in mir und mit mir vorgegangen war. Was ich unter anderem
herausfand, war, dass ich eine taktische Kampagne ohne Substanz führte.
Die Voraussetzung meiner Arbeit war, dass (US-Präsident) Bush gewählt
wurde, ohne etwas zu sagen und (Ministerpräsident Ariel) Sharon gewählt
wurde, ohne etwas zu sagen, drum dachte ich, dass es auch bei mir so
laufen wird. Als ich mir dann darüber im klaren war, dass ich eine
Niederlage erlebt habe, kam ich zu dem Schluss, dass ich zu viele Jahre zu
viel im politischen Getriebe lief und zu wenig auf meine innere Stimme
achtete. Meine Kampagne war starrköpfig, weil es eine Kampagne
persönlicher Popularität ohne wahren Inhalt war.
„Mein
Versuch, mich der Mitte zu bemächtigen und mein Verzicht, den ganzen Weg
mit meinen Ansichten zu Ende zu gehen, machte mich zu einem Kandidaten,
dem echte Positionen fehlten. Deshalb zog ich aus der Schlussanalyse die
Lektion, dass ich in einer solch schwierigen Periode meine Wahrheit
ungeschminkt aussprechen muss. Wenn es keine andere Wahl gibt, ist es
besser, wenn ich auf Grund der Wahrheit verliere, als dass ich wegen etwas
gewählt werde, was nicht vorhanden ist.“
Avrum, Sie spielen ein doppeltes Spiel, stimmt es? Einerseits sind Sie ein
gescheiter Politiker, der Erfahrung hat, durch die unruhigen Gewässer der
politischen Politik zu steuern, aber zur selben Zeit bestehen Sie darauf,
den Propheten zu spielen. Sie setzen sich zur Wehr gegen den Staat, die
Regierung und die zionistische Bewegung und geben einen jugendlichen
Schrei moralischer Entrüstung von sich.
„Ich
glaube nicht, dass meine Politik die eines unreifen Jugendlichen ist. Der
israelische Jugendliche flieht vor der israelischen Herausforderung, indem
er nach Indien oder Südamerika geht. Ich tue genau das Gegenteil. Ich
nehme den Stier bei den Hörnern und weigere mich, ihn laufen zu lassen.
Ich nehme nicht den Rucksack und renne vor dem Kampf weg. Ich glaube, wir
leben wirklich in einer schrecklichen Zeit. Ich glaube, wir leben an einem
Wendepunkt. Auf der einen Seite sind Zerstörungen, auf der anderen Rettung
und Erneuerung. Aber der Spielraum zwischen den beiden Möglichkeiten wird
immer enger. Die Gefahr einer Zerstörung ist näher als je zuvor. In solch
einer Situation kann ich nicht länger schweigen, auch wenn es weder
angenehm noch populär ist. Ich muss etwas tun, was in meiner Macht steht,
damit Israel wieder zu sich selbst zurückkehrt, dass Israel die Besatzung
aufgibt und nach Hause kommt.“
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs) |
Eine gescheiterte
israelische Gesellschaft stürzt zusammen, während ihre Führer schweigen
Die
Zionistische Revolution ist tot
Avraham Burg,
29.8.03
Die zionistische
Revolution hat immer auf zwei Pfeilern geruht: einem gerechten/ geraden
Weg und einer ethischen Führung. Keiner von beiden funktioniert mehr. Die
heutige israelische Nation stützt sich auf ein Gebilde von Korruption und
auf Fundamente der Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Als solche liegt das
Ende schon an unserer Türschwelle. Es ist sehr gut möglich, dass unsere
Generation die letzte zionistische sein wird. Esmag hier einen jüdischen
Staat geben, aber er wird anders sein, ungewohnt und hässlich.
Noch ist Zeit, den Kurs zu ändern, aber
nicht mehr lange. Was nötig ist, wäre eine neue Vision einer gerechten
Gesellschaft und der politische Wille, sie zu verwirklichen. Dies ist auch
nicht nur eine interne israelische Angelegenheit. Die Diasporajuden, für
die Israel eine tragende Säule ihrer Identität ist, müssen aufmerksam sein
und aussprechen, was wirklich geschieht. Wenn die Säule stürzt, werden die
oberen Stockwerke in sich zusammenfallen.
Die Opposition existiert nicht, und die
Koalition mit Arik Sharon als Führung beansprucht das Recht zu schweigen.
In einer Nation von Schwätzern ist plötzlich jeder stumm geworden, weil er
nichts mehr zu sagen hat. Wir leben in einer laut donnernd
zusammenstürzenden Realität.
Gewiss, wir haben die hebräische Sprache
wiederbelebt, ein wunderbares Theater geschaffen und eine starke nationale
Währung. Unser jüdischer Verstand ist so scharf wie immer. Wir werden auf
dem Nasdaq gehandelt. Ist dies aber der Grund, warum wir einen Staat
geschaffen haben? Das jüdische Volk überlebte nicht zwei Jahrtausende, um
neuen Waffen, Computer-Sicherheitsprogrammen oder Anti-Raketengeschossen
den Weg zu bahnen. Wir sollten ein Licht unter den Völkern sein. Genau
hierin haben wir versagt.
Es stellt sich heraus, dass der 2000 Jahre
dauernde Kampf ums jüdische Überleben auf einen Staat der Siedlungen
heruntergekommen ist, der von einer amoralischen Clique korrupter
Gesetzesbrecher regiert wird, die sowohl für ihre Bürger als auch ihre
Feinde nur taube Ohren haben. Ohne Gerechtigkeit kann ein Staat nicht
überleben. Immer mehr Israelis verstehen dies, sobald sie ihre Kinder
fragen, wo sie wohl in 25 Jahren zu leben vorhaben. Kinder, die ehrlich
zugeben, dass sie dies nicht wüssten, schockieren ihre Eltern. Der
Countdown des Endes der israelischen Gesellschaft hat begonnen.
Es ist sehr bequem, ein Zionist in einer
Westbank-Siedlung wie die in Beth El oder Ofra zu sein. Die biblische
Landschaft ist bezaubernd. Aus dem Fenster kann man durch Geranien und
Bougainvilleas hindurch nichts von der Besatzung sehen. Wenn man auf den
Schnellstraßen fährt, auf denen man von Ramot am nördliche Rand Jerusalems
nach Gilo am südlichen Rand in 12 Minuten fährt, kann man kaum die
demütigende Erfahrung eines verachteten Arabers verstehen, der stundenlang
auf schlechten abgesperrten Straßen entlang kriechen muss, die nur für ihn
bestimmt sind. Eine Straße für den Besatzer und eine Straße für den
Besetzten.
Das geht nicht auf Dauer. Selbst wenn die
Araber ihre Köpfe senken und ihre Scham und ihre Wut ständig
hinunterschlucken – dies geht nicht auf Dauer. Eine Gesellschaft, die auf
menschlicher Gleichgültigkeit aufgebaut ist, wird unvermeidlich in sich
zusammenstürzen. Man merke sich diesen Augenblick sehr wohl: die
zionistische Supergesellschaft stürzt schon zusammen wie eine billige
Jerusalemer Hochzeitshalle. Nur Wahnsinnige tanzen auf der oberen Etage weiter, während die Pfeiler
unten zusammenbrechen.
Wir sind damit aufgewachsen und haben uns
an das Leiden der Frauen an den Straßensperren. gewöhnt - kein Wunder,
dass wir die Schreie der vergewaltigten Frauen nebenan nicht mehr hören
oder den Kampf der allein erziehenden Mutter, die ihre Kinder in Würde
erziehen will, wahrnehmen. Wir bemühen uns nicht einmal mehr, die von
ihren Männern ermordeten Frauen zu zählen.
Israel, das aufgehört hat, sich um die
palästinensischen Kinder zu kümmern, sollte nicht überrascht sein, wenn
diese dann voller Hass sich selbst dort in die Luft jagen, wo Israelis der
Realität zu entfliehen versuchen. Sie vertrauen sich dort Allah an, wo wir
Erholung suchen, weil ihr Leben zur Tortur geworden ist. Sie vergießen ihr
Blut in unseren Restaurants, um uns den Appetit zu nehmen, weil sie zu
Hause Kinder und Eltern haben, die hungrig und gedemütigt sind.
Wir könnten 1000 ihrer Rädelsführer und
Ingenieure täglich töten, und nichts wird gelöst werden, weil die Führer
von unten kommen, von den Quellen des Hasses und der Wut, aus der
Infrastruktur der Ungerechtigkeit und der moralischen Korruption.
Wenn all dies unvermeidlich wäre, etwa
göttlich angeordnet und unveränderlich – dann würde ich schweigen. Doch
liegen die Dinge anders. Deshalb ist der Aufschrei ein moralischer
Imperativ.
Hier ist das, was der Ministerpräsident
sagen sollte:
Die Zeit der Illusionen
ist vorbei. Der Zeitpunkt für Entscheidungen ist gefallen. Wir lieben das
ganze Land unserer Vorväter. Wir würden hier gerne alleine leben. Aber das
wird so nicht geschehen. Die Araber haben Träume und Bedürfnisse.
Zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer
gibt es keine klare Mehrheit mehr. Und deshalb, liebe Mitbürger, ist es
nicht möglich, das ganze Land, ohne einen Preis zu bezahlen, zu behalten.
Wir können keine palästinensische Mehrheit unter dem israelischen
(Besatzungs-) Stiefel halten und gleichzeitig von uns als der einzigen
Demokratie im Nahen Osten träumen. Es kann keine Demokratie ohne gleiche
Rechte für alle, die hier leben, für Araber genau wie für Juden, geben.
Wir können die Gebiete nicht behalten und eine jüdische Mehrheit im
einzigen jüdischen Staat der Welt bewahren - nicht mit Mitteln, die
menschlich, moralisch und jüdisch sind.
Wollt Ihr ein größeres Israel? Kein
Problem. Geben wir die Demokratie auf! Lasst uns ein effektives System von
rassistischer Trennung mit Gefängnis- und Verhaftungslagern einrichten.
Qalqilia-Ghetto und Gulag Jenin.
Wollt ihr eine jüdische Mehrheit?. Kein
Problem. Entweder setzt ihr die Araber in Eisenbahnwaggons, in Busse, auf
Kamele und Esel und vertreibt sie en masse. Oder wir trennen uns absolut
von ihnen ohne Tricks und Gags. Es gibt keinen Weg dazwischen. Wir müssen
alle Siedlungen räumen – alle! – und eine international anerkannte Grenze
ziehen zwischen der jüdischen nationalen Heimstätte und der
palästinensischen Heimstätte. Das jüdische Rückkehrgesetz gilt innerhalb
unserer nationalen Heimstätte, und ihr Rückkehrgesetz gilt nur innerhalb
der Grenzen des palästinensischen Staates.
Wollt Ihr eine Demokratie? Kein Problem.
Entweder gebt Ihr Groß-Israel mit allen Siedlungen und Außenposten auf,
oder gebt jedem volle Staatsbürgerschaft und alle Stimmrechte,
einschließlich den Arabern. Die Folge davon wird sein, dass diejenigen,
die keinen palästinensischen Staat neben uns haben wollen, die werden ihn
mitten unter uns haben, via Wahlurne.
Das ist es, was der Ministerpräsident dem
Volke sagen sollte. Er sollte die Möglichkeiten der Wahl geradeheraus
sagen. Jüdisches Rassenbewusstsein oder Demokratie. Siedlungen oder
Hoffnung für beide Völker. Falsche Visionen oder Stacheldraht,
Straßensperren und Selbstmordattentäter oder eine international anerkannte
Grenze zwischen zwei Staaten und eine geteilte Hauptstadt Jerusalem.
Aber es gibt keinen Ministerpräsidenten in
Jerusalem. Die Krankheit, die den Körper des Zionismus angegriffen hat,
hat schon den Kopf erreicht. David Ben Gurion irrte manchmal, trotzdem
blieb er gerade wie ein Pfeil. Als Menachem Begin unrecht hatte, stellte
keiner seine Motive in Frage. Nun nicht mehr. Die öffentliche
Volksbefragung von letzter Woche belegte, dass eine Mehrheit der Israelis
nicht an die persönliche Integrität des Ministerpräsidenten glaubt – doch
vertrauen sie seiner politischen Führung. In anderen Worten verkörpert
Israels augenblicklicher Ministerpräsident beide Seiten des Kurses: eine
in Verdacht geratene persönliche Moral und offene Missachtung für das
Gesetz, verbunden mit der Brutalität der Besatzung und der Zerstörung
jeder Friedenschance. Dies ist unsere Nation, dies sind unsere Führer. Die
unentrinnbare Folge ist: die zionistische Revolution ist tot.
Warum ist dann die Opposition so ruhig?
Vielleicht weil Sommer ist oder weil sie erschöpft ist oder weil einige um
jeden Preis sich gerne der Regierung anschließen wollen, selbst um des
Preises willen, auch von der Krankheit befallen zu werden. Aber während
sie zaudern, verliert die Macht des Guten die Hoffnung.
Dies ist die Zeit für klare Alternativen.
Jeder der dahin neigt, eine klar definierte Position einzunehmen – schwarz
oder weiß - arbeitet tatsächlich in Richtung Verfall. Es geht nicht um
Labor gegen Likud, nicht um rechts gegen links, sondern um Recht gegen
Unrecht, annehmbar gegen unannehmbar. Gesetzestreue gegen Gesetzesbrecher.
Was notwendig wäre, ist nicht ein Ersatz für die Sharon-Regierung, sondern
eine Vision der Hoffnung, eine Alternative zur Zerstörung des Zionismus
und seiner Werte durch Taube, Stumme und Gleichgültige.
Israels Freunde im Ausland – jüdische
ebenso wie nicht-jüdische, Präsidenten und Ministerpräsidenten, Rabbiner
und Laien - sollten wohl überlegt entscheiden. Sie sollten ihren Einfluss
ausüben und Israel helfen, die Road Map zu erfüllen als Beitrag unserer
nationalen Erfüllung, „ein Licht unter den Völkern“ zu sein und eine
Gesellschaft des Friedens, der Gerechtigkeit und der Gleichberechtigung.
Abraham Burg war
Israels Knessetpräsident von 1999 – 2003 und ein früherer Vorsitzender der
jüdischen Agentur von Israel. Im Augenblick ist er Labormitglied in der
Knesset. Dieser Artikel ist ein vom Autor bearbeiteter Artikel, der in
Yedioth Aharanot erschien und am 29.8.2003 in Forward
Aus dem Hebräischen ins Englische
übersetzt: J.J.Goldberg;
aus dem Englischen: Kay Krafczyk und Ellen
Rohlfs
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