Straubinger
Tagblatt - 10.07.2004
GLEICHER ALS ANDERE
VON
FRIDOLIN M. RÜB
"All
animals are equal, but some are more equal than others."
"Animal
Farm", George Orwell.
Der zur Spruchweisheit
gewordene Satz aus Orwells Roman "Farm der Tiere", wonach "alle
Tiere gleich - einige aber gleicher" seien als die anderen, wird
künftig wieder des Öfteren - und nicht nur von den Feinden Israels -
zitiert werden, angesichts der strikten Weigerung der Regierung
Scharon, das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den
Haag zu akzeptieren, wonach die israelischen Sperranlagen zum
Westjordanland internationalem Recht widersprächen und deshalb
abgebaut werden müssten.
Das Schlimme daran ist,
dass die rechtslastige Regierung in Jerusalem das Ganze noch toppt,
indem sie dem Haager Gerichtshof rundweg das Recht zu einer
Entscheidung abspricht. Damit liefert sie nicht nur Israels
Todfeinden quasi frei Haus neue Munition, sondern macht es auch
seinen Freunden immer schwerer, Partei für den jüdischen Staat zu
ergreifen. Das Gutachten wurde nämlich von der UN-Vollversammlung im
vergangenen Dezember beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag,
der obersten Rechtsinstanz der Vereinten Nationen, in Auftrag
gegeben. Die Frage muss also schon erlaubt sein, wessen
Schiedsspruch Israel denn geneigt ist, sich zu beugen? Oder erhebt
es den Anspruch "gleicher zu sein als andere"?
Unterstützung erhielt die
palästinensische Seite sogar vom Obersten Gerichtshof in Israel. Die
Richter entschieden am 30. Juni, dass der Verlauf der Anlage an
einigen Stellen (30 von insgesamt 685 Kilometer) geändert werden
muss, da der Wall die Lebensbedingungen vieler Palästinenser
unzulässig beeinträchtige.
Das israelische Kabinett
hat eigenen Angaben zufolge den Bau des "Anti-Terror-Zauns" vor zwei
Jahren beschlossen, um palästinensische Selbstmordattentäter
aufzuhalten. Die Palästinenser ihrerseits haben zwar kein
grundsätzliches Problem mit einer Grenzziehung, verurteilen die
Sperranlage jedoch in ihrem gegenwärtigen Verlauf als "Berliner
Mauer". Die Anlage orientiert sich nämlich nur auf wenigen
Abschnitten entlang der Waffenstillstandslinie von 1967, meist aber
verläuft sie tief in von Israel besetztem Palästinenser-Gebiet.
Für den Bau dieser
"Apartheid-Mauer" wurden tausende Hektar Land von palästinensischen
Besitzern konfisziert. Und einer Studie der Vereinten Nationen
zufolge ist davon jeder dritte Palästinenser betroffen: 274000
Menschen fänden sich bei Fertigstellung des Grenzwalls in winzigen
Enklaven eingeschlossen. 400000 weitere Menschen hätten keinen
freien Zugang zu ihren Feldern, Arbeitsplätzen, Schulen und
Krankenhäusern. Die Palästinenser müssen heute schon gewaltige
Umwege machen und können nur noch an speziellen, streng gesicherten
Grenzübergängen nach Israel oder Jordanien gelangen. Eine Wegstrecke
von zwanzig Kilometern kann so leicht eine - immer wieder von oft
schikanösen Kontrollen unterbrochene - strapaziöse Tagesreise
bedeuten.
Der Likud-Premier und
Ex-General Ariel Scharon steht jedoch auf dem Standpunkt, dass
"Leben (von Israelis) vor Lebensqualität (der Palästinenser) geht".
Seit Baubeginn im Oktober 2002 sei die Zahl der israelischen
Terroropfer etwa um die Hälfte zurückgegangen. Doch es steht zu
befürchten, dass islamistische Fanatiker dadurch neuen Zulauf
bekommen. Und Terroristen vom Schlage der Hamas suchen sicher schon
nach einem Ausweg, wenn der bisherige verschlossen wird. Er heißt
Kassam-Raketen. Israels Antwort darauf wird lauten: Die
Abschussrampen zerstören. Das wiederum bedeutet, die Gewaltspirale
wird sich weiter drehen. Dies wird sich nicht ändern, solange nicht
internationales Recht und das Grundrecht der Palästinenser auf ein
menschenwürdiges Dasein anerkannt werden.
Doch ob und wann überhaupt
Verhandlungen stattfinden können, steht in den Sternen. Gegenwärtig
jedenfalls besteht da keine Chance. Wie um das klar machen, hat die
Regierung Scharon diese Woche Vertreter des Nahost-Quartetts offen
brüskiert. Sie verweigerte ein Treffen mit den Vertretern der USA,
der EU, der UNO und Russlands, bei dem es um den von Scharon
avisisierten Rückzug aus dem Gaza-Streifen gehen sollte. Das
Nahost-Quartet betrachtet den Plan als ersten Schritt der so
genannten "Roadmap", die zu einem Frieden in Krisenregion führen
soll.
Die Ablehnung des Treffens
ist ein weiteres Zeichen dafür, dass Israel von der vereinbarten
Roadmap abrückt. Israelische Regierungsvertreter erklärten nämlich
unverblümt, die Zeit für eine Zusammenarbeit mit dem Quartet sei
noch nicht gekommen.
Die USA halten offiziell
zwar noch der Roadmap fest, doch auch Washington hat in letzter Zeit
eine zunehmend distanzierte Haltung gegenüber den anderen Parteien
des Nahost-Quartetts eingeschlagen. In den USA herrscht Wahlkampf,
und da will es sich weder Präsident George W. Bush noch sein
demokratischer Herausforderer John Kerry mit der starken
israelischen Lobby verderben.
In Israel wiederum wird der
nationalistische Hardliner Scharon mittlerweile von vielen seiner
ehemaligen Gefolgsleute wegen des Gaza-Abzugsplanes als "Verräter an
Erez-Israel" (Groß-Israel) diffamiert. Der Inlandsgeheimdienst Schin
Bet warnte Scharon bereits vor möglichen Anschlägen gewaltbereiter
Siedler. Zur Erinnerung: Am 4. November 1995 wurde der auf Ausgleich
mit den Palästinensern bedachte Premier Izchak Rabin von einem
fanatischen Talmud-Studenten ermordet. Scharon will 2005 rund 7500
jüdische Siedler aus dem Gaza-Streifen zurückholen; 500 weitere
sollen ihre Häuser im Westjordanland aufgeben. Seine hoch
emotionalisierte Anhängerschaft erwartet aber von ihm das genaue
Gegenteil. Die insgesamt 140000 zumeist rechtsradikalen Siedler und
die National-Religiösen haben sich nie von dem Traum eines
Groß-Israel verabschiedet. Das Westjordanland gilt ihnen als die
Wiege des jüdischen Volkes Glaubens - es aufzugeben, wäre für sie
der ultimative Ausverkauf. Noch heute, fast elf Jahre nach der
Massenmordaktion des jüdischen Arztes Baruch Goldstein in Hebron,
der 29 betende Moslems kaltblütig erschoss, wird er von fanatischen
Juden als Märtyrer verehrt. Sein Grab ist für
militant-nationalistische Israelis zu einer Pilgerstätte geworden.
Es ist diese bizarre
Mischung aus biblischem Auserwähltheits-Mythos, messianischer
Sendungsgewissheit und Gewalfbereitschaft, die die Radikalen unter
den jüdischen Rechten zu einer Gefahr für Israels Demokratie und für
die Chance auf Koexistenz in Nahost werden lässt. Scharons Klientel
erwartet von ihm zweierlei: dass er keinen Zoll Boden preisgibt und
einen Palästinenser-Staat verhindert. Wenn er das nicht tut, bekommt
er den Zorn der Rechten zu spüren. Die Geister, die er rief, wird
Scharon nicht mehr los. |