Seit
Anfang der neunziger Jahre werden Verhandlungen zwischen Israel und
Palästinensern geführt, mit dem vergeblichen Ziel , eine Zweistaatenlösung
zu erreichen. Gleichzeitig breitet Israel sich aus, die Palästinenser werden
in dem, was übrig bleibt, zusammengepfercht und die beiderseitigen
Feindseligkeiten dauern an. Nun kommt Ilan Pappe, Professor an der
Universität Exeter, mit der Aufforderung an alle, die sich mit Nahost
befassen, insbesondere an seine Landsleute in Israel, sich mit der Flucht
der Palästinenser vor 60 Jahren auseinander zu setzen und zu begreifen,
warum sie stattfand. Er hält das für zwingend notwendig, um eine Versöhnung
und eine lebensfähige Lösung zu erreichen.
Er erinnert daran, dass die UN im Dezember 1948
die Zurückführung der Flüchtlinge forderte. Israel weigerte sich und die USA
leisteten Beihilfe, damit die Frage nicht auf die Tagesordnung der
Vollversammlung kam. Palästinenser haben vergeblich versucht, mit Israel
über die Flüchtlinge zu verhandeln. Alle Parteien in Israel haben für ein
Gesetz gestimmt, das Verhandlungen über diese Frage verbietet. Nach der
offiziellen Erklärung für die Flucht, die von Ben Gurion geäußert wurde,
wurden die Palästinenser von den arabischen Nachbarstaaten aufgefordert,
vorläufig zu flüchten, damit sie Raum hätten, Israel anzugreifen. Das ist
eine bloße Behauptung. Dagegen zeigt Pappe anhand seiner umfangreichen und
bestens durchdachten Untersuchung der einschlägigen Dokumente, dass
Hunderttausende von Palästinensern schon während des britischen Mandats und
vor der Gründung Israels und dem Krieg vertrieben wurden. Während und nach
dem Krieg wurde die Vertreibung ohne Unterbrechung fortgesetzt. Es handelte
sich um eine ethnische Säuberung: Die Palästinenser mussten gehen, um Platz
für Juden zu machen. Die Zionisten wurden von dem Wunsch beseelt, einen
ausschließlich oder fast ausschließlich jüdischen Staat zu gründen.
Daten über die arabischen Dörfer, die für die
Eroberung nützlich sein könnten, wurden schon vor Ende der dreißiger Jahre
erfasst. In dem Plan (Dalet) wurde der Teil von Palästina festgesetzt, den
Ben Gurion und seine Berater für den Staat haben wollten. Mit geringen
Abstrichen war es der Teil, den ihre Truppen später eroberten und er machte
80% des Landes aus. Die UN Vollversammlung hatte im Teilungsplan vom
November schon einen üppigen Teil (57%) einschließlich der fruchtbaren Küste
für die Juden empfohlen, die als Kolonisten gekommen waren und nur 30% der
Bevölkerung ausmachten. Der Plan für die Eroberung ging am 1. April 1947 in
kraft. Die jüdische Armee und die Terrorbande Irgun, deren Anführer Begin,
später Premierminister wurde, verübten Gräueltaten, einschließlich
zahlreicher Massaker. Bis zum Ende des Mandats wurden 250 arabische Dörfer
zerstört und die Einwohner vertrieben. Alle größeren Städte wurden besetzt
und die arabischen Stadtteile weitgehend entvölkert. 250,000 Palästinenser
wurden aus dem Land vertrieben. Vereinzelte Vertreibungen geschahen schon
vor Inkrafttreten des Daletplans. Hier zwei Beispiele für die Vertreibungen:
1. Ende Dezember 1947 griffen die Armee und Irgun Haifa an. Da die
zionistischen Kolonisten erst in den vorangegangenen Jahrzehnten gekommen
waren, siedelten sie an einem Hang, der die arabischen Wohngebiete
überragte. Von dort aus wurde die arabische Bevölkerung bombardiert.
Sprengstofffässer und riesige Stahlkugeln wurden in ihre Wohnviertel
heruntergerollt. Ein Gemisch aus Öl und Benzin wurde auf die Straßen
gegossen und angezündet. Die Einwohner rannten in Panik aus den Häusern und
gerieten in das Dauerfeuer aus Maschinengewehren. 2. Am 9. April drangen
Soldaten in das Dorf Deir Jassin ein, feuerten mit Maschinengewehren auf die
Häuser und töteten viele Bewohner. Sie trieben die anderen zusammen und
ermordeten sie der Reihe nach, schändeten ihre Leichen und vergewaltigten
einige Frauen. Es gab 90 Tote, darunter 15 Babys. Die Militärs selbst
verbreiteten die Nachricht über diese Gräueltaten über Lautsprecher in
anderen Dörfern.
Gleichzeitig mit diesen Ereignissen hielt Ben
Gurion Reden, in denen er behauptete, die Juden wären durch die Araber
höchst gefährdet, er fürchte einen zweiten Holocaust. Doch mit den engsten
Mitarbeitern und in seinem Tagebuch zeigte er sich zuversichtlich. Was
wirklich geschah, wurde in ausländischen Zeitungen, auch in der New York
Times berichtet. Das amerikanische Auswärtige Amt wusste davon. Wie schon
früher war dieses Amt gegen die Teilung des Landes und forderte als
nächsten Schritt eine Treuhand. Aber die jüdische Lobby bearbeitete
Präsident Truman und er gab nach, obwohl er über den Druck der Zionisten
entsetzt war.
Nach dem Ende des Mandats und der Gründung
Israels ging die ethnische Säuberung ohne Unterbrechung weiter. Die zwei
Beispiele, die ich kurz geschildert habe, sind m. E. bezeichnend für die
Einstellung gegenüber den Opfern wie auch für die Verbrechen, die sie
begangen haben. Die Folge: 531 Dörfer zerstört, die arabischen Stadtteile
weitgehend entvölkert und die Hälfte der einheimischen Bevölkerung (800,000)
heimatlos.
Es bestand zu keiner Zeit die Möglichkeit für
die arabischen Staaten, die Vertreibung aufzuhalten, nicht zu sprechen von
einer Gefährdung Israels. Die jüdische Armee bestand aus 50,000 Soldaten,
etwa die Hälfte davon hatte mit der britischen Armee im Zweiten Weltkrieg
gedient. Auf der arabischen Seite war die jordanische Armee, die einzige,
die der jüdischen gleichwertig war, aber sie wurde neutralisiert. Der König
versprach der jüdischen Führung, seine Truppen nicht in die von den Juden
beanspruchten Gebiete eindringen zu lassen. Dafür sollte er das
Westjordanland erhalten. Nach dem UN Teilungsplan sollten die Palästinenser
dieses Gebiet für ihren Staat erhalten. Auch die Briten haben die
Palästinenser verraten. England war als Mandatsmacht verantwortlich, für
Recht und Ordnung zu sorgen. Es hatte reichlich Truppen, tat aber nichts
gegen die Vertreibung. Der palästinensische Widerstand war schon mit der
Zerschlagung ihres Aufstands (1936 – 39) durch die britische Armee endgültig
erledigt und die Führung verbannt. Die arabischen Führer in anderen
Nachbarstaaten zögerten, ihre Truppen nach Palästina zu schicken, wo sie
keine Aussichten auf Erfolg hatten. Sie taten es erst nach Demonstrationen
der Bevölkerung gegen die Untätigkeit ihrer Regierungen und Tausende
opferbereite, aber kampfunfähige Freiwillige gingen nach Palästina.
Pappes Empfehlungen: Die Israelis sollten
anerkennen, dass ihre Gründungsväter (ihre Helden) das Verbrechen einer
ethnischen Säuberung begangen haben. Sie müssen einsehen, dass die
Palästinenser die Opfer schlechthin waren. Sie müssen sich damit abfinden,
dass die Gründung ihres Staates moralisch nicht gerechtfertigt werden kann.
Weiterhin: Die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge darf kein Tabu
sein. Das könnte das Ziel eines ausschließlich jüdischen Staates vereiteln,
aber das Streben nach Verwirklichung dieser Ideologie hat zu den Verbrechen
geführt. Keine Frage: Es ist zur Zeit höchst unwahrscheinlich, dass Pappe -
und viele Gleichgesinnte – Gehör finden. Das weiß er selbst. Aber seine
Botschaft kann langfristig eine kraftvolle Wirkung entfalten. Daß eine
Versöhnung und eine tragfähige Lösung sonst nicht stattfindet, ist
glaubwürdig.