Musik,
eine Brücke über eine tiefe Kluft
Ed
Vulliamy, The Observer, 13.7.08
Die gnadenlose Sonne wird
zum Abend hin milder, als Hunderte von Dorfbewohnern
sich auf den Weg in die Ruinen des römischen
Amphitheaters von Sebastia machten, um sich gegenüber
seinem Bogen auf den Steinstufen niederzulassen …Und als
das orangene Licht zwischen den silbergrünen Blättern
der umgebenden Olivenhaine tiefer sank, spielte
Montasser Jabriny,16, die ersten sinnesfreudigen, aber
klagenden Töne von ‚al-Haluadi’ ( das wunderschöne
Mädchen) auf seiner Klarinette. Resha Shalelda auch 16,
folgte mit ihrer Flöte, und so begann das Abendkonzert.
Dies ist das Herz der
besetzten palästinensischen Gebiete, wo die Olivenbäume
die Hänge hinabwachsen. Über ihnen bewachen mit
Maschinengewehren bewaffnete Posten die israelischen
Siedlungen. Die hier musizierenden Kinder sind aus
Ramallah, der Hauptstadt der palästinensischen Westbank
und aus Jenin, wo die israelische Armee so brutal
vorgegangen war. Die Musik ist orientalisch, mit ihrer
beschwingten chromatischen und berauschenden Melodien.
Dieses Konzert ist ein Teil eines Festivals, das an die
Nakba – die Katastrophe - vor 60 Jahren erinnert. Nur
wenige Kilometer entfernt feiern die Israelis die
Gründung ihres Staates, der sich aus der Asche des
Holocaust erhob.
Es gibt eine Verbindung
zwischen dieser Szene und dem Höhepunkt dieser Musik zu
einer einzigartigen Gestalt und einem einzigartigen
Projekt, das nicht die Dualität zwischen den beiden
Jahrestagen verkörpert, sondern das Gegenteil – nicht
die 6 Dekaden von Hass und Missverständnis, Gewalt und
Unterwerfung, sondern ein Modell für Begegnung,
gegenseitiger Akzeptanz und letztlich Frieden – durch
Musik. Diese Gestalt ist Daniel Barenboim, der
vortrefflichste Pianist dieser Generation und einer der
größten Dirigenten, aber auch ein Visionär und Aktivist
in Sachen der Musik, von Musik trotz des Krieges; die
Sache der Kunst über Hass. Er ist auch der erste und
einzige Israeli, der eine doppelte Staatsangehörigkeit
und auch einen palästinensischen Pass hat.
Das Projekt ist ein
Orchester, das Barenboim mit dem inzwischen verstorbenen
großen palästinensischen Schriftsteller Edward Said
gründete und das er dirigiert und in diesem August zu
einem Konzert bringt: das West-östliche Divan-Orchester,
das aus jungen jüdischen Israelis und Palästinensern und
anderen arabischen Musikern besteht. Barenboim und Said
nahmen den Namen von einer Reihe später Gedichte, die
Goethe während seines Studiums arabischer und persischer
Verse schrieb. Divan bedeutet „der andere“.
Die Musiker aus Israel und
Palästina (auch aus Syrien, dem Libanon u.a.)
versammelten sich zu ihren ersten gemeinsamen Proben
1999 in Weimar, der Stadt von Bach, Goethe und Schiller
– dem Höhepunkt deutscher Kultur. Von dort machten sie
auch eine Pilgerfahrt zum Tiefpunkt der deutschen und
menschlichen Geschichte – zum KZ-Lager Buchenwald.
Die Verbindung zwischen dem
Divan und der wunderbaren, herausfordernden Szene im
Amphitheater von Sebastije, das in der Zeit des König
Herodes gebaut wurde, ist der Mann am Mischpult, der
sich an seinen Assistenten wendet, lächelt und mit dem
Daumen ein Zeichen gibt, Ramzi Abu Redwan. Die jungen
Musiker sind Schüler eines Projektes, das in der ganzen
Westbank läuft. Und dieses Konzert ist der Höhepunkt
von viel harter Arbeit. „Für mich ist es ein größeres
Vergnügen, wenn ich sehe, wie sie gut spielen, als wenn
ich selbst spielen würde,“ sagt er. Ramzi, 29, spielt im
Divan Viola.
Seine Lebensgeschichte und
sein Spielen im Divan hängt mit den vergangenen 60
Jahren zusammen. (hier folgt eine Kurzfassung dieser 60
Jahre in Israel/Palästina ER)
Als ich das letzte Mal vor
25 Jahren aus dem arabischen Ost-Jerusalem nach
Ramallah, Ramzis Heimatstadt, fuhr, war es eine Fahrt
mit dem PKW von 15 Minuten – durch von Israel besetztes
Gebiet. Das ist heute nicht mehr so. Man muss die
Sicherheitsbarriere, die Mauer, die an sich schon Gewalt
bedeutet durchfahren. Sie verläuft nicht auf der grünen
Linie von 1948, sondern durch die Westbank wie eine
Wunde. Wir stoßen auf Leute, die auf der einen Seite der
Mauer und der Checkpoints leben - ihre Werkstätten,
Felder und Familien sind aber auf der andern Seite.
Als wir schließlich auf der
Ramallahseite sind, entdecken wir berühmte Grafittis von
Banksy: „CTRL+ALT+DELETE hat ein Witzbold gemalt. ‚Diese
Mauer wird fallen’, hofft ein anderer – im Geist des
Divan-Orchesters.
Es war hier im
Amari-Flüchtlingslager wo Ramzi 1979 geboren wurde. ‚Ich
verstand nicht, was Besatzung bedeutet, bis mir mein
Großvater erklärte, er habe noch ein anderes Haus in
einem Dorf, aus dem er 1948 vertrieben wurde, mit
wunderschönen Bäumen rund herum . Im Lager gab es nur
einen Baum.’
Ramzi verkaufte Zeitungen
für seinen Großvater und brachte etwas Wechselgeld nach
Hause. Er war mit einem neunjährigen Mädchen, Nahil,
befreundet. „Sie war wunderbar, ich wartete jeden Morgen
vor ihrem Haus. Ich liebte sie so sehr. Eines Tages kam
sie mit Brot vom Bäcker. Nahil überquerte die Straße, da
wurde sie von einem Scharfschützen vom Dach eines großen
Gebäudes in den Kopf geschossen. Ich rannte zu ihr und
wollte ihr helfen, doch der Soldat schoss weiter. Ich
habe noch immer das Bild von jenem Augenblick in meinem
Kopf, und ich hab noch immer ihr Foto. Ich wurde auf
einmal erwachsen und stellte Frage: wie kann man so
etwas tun?“
Ramzi wurde der Steine
werfende Junge vom Poster aus dem Flüchtlingslager,
buchstäblich. Ein Foto von ihm erschien in einem
Magazin: mit Steinen in der Hand und einem besonderen
Ausdruck zwischen Zorn und Angst. … Er wurde dreimal
angeschossen, einmal schlugen sie mich zusammen. Am Arm,
die heute die Viola hält, hat er noch eine Narbe davon.
„Dann kam eine Veränderung
in mein Leben. Ich verdiente mir mit Säubern und
Gartenarbeit Geld. Dann gab es da einen Workshop mit
Instrumenten für 20 Leute. Man gab mir eine Viola. Sie
hatte einen wunderbaren Klang . Ich war sehr glücklich
an jenem Tag und mein Leben veränderte sich um 360 Grad.
…“
Ramzi erinnerte sich an die
Ankunft eines Viola-Spielers aus Massachusetts, Peter
Sulski, um in einem Kammerkonzert Mozarts
G-Moll-Klavierquintett zu spielen. „Ich war entzückt –
es war nicht wie unsere Musik. Alles war anders ..
Sulski erkannte Ramzis Talent und Verständnis
und bot ihm Unterrichtsstunden an. Ich wollte nicht,
dass er den Raum verlässt, sagt Ramzi. Das führte zu
einer Sommerschule in New Hampshire: Amerikaner,
Franzosen, Musiker aus aller Welt – da wurde mir etwas
klar. Wir lasen alle verschiedene Teile von ein und
derselben Sache. Es war zum Teil die Schönheit der
Musik, aber es war auch der Klang der Instrumente, die
da zusammenspielten, was mich so eingenommen hatte…“.
Nach New Hampshire erhielt
Ramzi für sieben Jahre einen Studienplatz am
Konservatorium in Angers in Frankreich. Dann geschahen
drei Dinge: eine Einladung, sich dem Divan-Orchester an
ihrem 1. Einsatzort in Weimar anzuschließen. Aber sein
Lehrer riet ihm: „Man hat dich nicht als Musiker
eingeladen, sondern weil du Palästinenser bist. Du musst
deine musikalischen Grenzen erkennen. Noch bist du nicht
so weit.“ Dann brach die 2. Intifada aus. Er war um
seine Familie besorgt. „Ich konnte mich an keinem
Sommerprojekt beteiligen. Ich konnte mich nicht
konzentrieren und ich spielte nicht gut.“ Das dritte
Ereignis war Ramzis Wunsch, die Kinder im Lager über das
zu informieren, was er erfahren hatte, welche Kraft in
der Musik steckt. ‚Die Kinder waren begeistert und
drängten mich, sie zu unterrichten, luden mich in ihre
Häuser ein, wollten, dass ich meine Instrumente
mitbrachte und orientalische und klassische Musik
während der Ausgangssperren ihnen nahe brachte. Leute
nannten mich einen Träumer, ihnen war nicht klar, dass
Musik ihnen helfen kann. Später erkannten sie es. ‚Warum
tust du das? Du musst kämpfen, du musst essen.’ Aber ich
erwiderte: ‚Was sie hier tun, ist , das Leben der
Menschen zu nehmen. Wenn ich Musik bringe, bringe ich
Leben. Keiner kann ohne Musik leben – sie wissen es nur
nicht“. Und die Kinder, die musizierten, interessierten
sich auf einmal für die Zukunft.’
Und so wurde die
Al-Kamandjati-Musikschule für Geiger gegründet, parallel
zur Barenboim-Said-Stiftung in Ramallah nicht nur um zu
hervorragender Leistung zu ermutigen, sondern um
möglichst vielen Kindern das Musizieren zu ermöglichen.
Ramzi fand ein wunderschönes Gebäude im alten Ramallah,
das von der schwedischen Regierung renoviert wurde und
das nun voller Musik ist, die von Kindern gespielt wird.
Sie werden von Lehrern aus vielen Ländern, wie Italien,
Deutschland, Amerika, England unterrichtet. Die
schelmische kleine Ale, 10, verbringt ihren ganzen Tag
hier. Sie bietet, während sie auf ihre Geigenstunde
wartet, Pflaumen auf einem Teller an. Aus einem Fenster
ertönt eine Bach-Cello-Suite …
‚Ich tat wie gewöhnlich
nichts auf der Straße’ sagt Montasser, der 16jährige
Klarinettist im Amphitheater und Ramzi sagte: ‚Warum
musizierst du nicht?’ ‚So kam ich zu Al-Kamandjati und
versuchte, den Kontrabass zu spielen, aber meine Finger
waren zu weich. Plötzlich hörte ich die Klarinette. Es
war der schönste Klang, den ich je hörte, und ich
fragte, ob ich dies lernen könnte. Ramzi sagte ‚ja!’…
Und nun ist mein Leben mit Musik erfüllt. Am liebsten
spiele ich Mozarts 4. Symphonie.’ ‚Ich war zu Hause mit
Abwaschen beschäftigt,’ lachte Resha, die Montasser mit
der Flöte begleitet, ‚und nun kann ich nicht mehr ohne
Musik leben, sie ist wie die Luft, die ich zum Atmen
brauche. Warum? Sie gibt mir das Gefühl, als ob ich
flöge. Und ich bin stolz darauf, wer ich bin und woher
ich komme.’
….
Barenboim sagt immer, sein
Projekt sei nicht politisch. Aber einer der wirklich
großen Dinge ist, dass dies ein politisches Statement
ist. Es ist viele wichtiger – nicht für Leute wie mich –
aber für andere, dass sie sehen, man kann sich mit
Arabern zusammensetzen und mit ihnen zusammen
musizieren. Das Orchester ist ein menschliches
Laboratorium, das der ganzen Welt gegenüber zum Ausdruck
bringen kann, wie man mit einander zurecht kommt.
Amichai, der Violaspieler sagt, das Divan-Orchester sei
wie eine Familie, auch wenn die Beziehungen bei
Gelegenheiten wie bei dem Bus-Terroranschlag 2002 in Tel
Aviv nicht leicht sind. Es war eine gespannte
Atmosphäre, aber am Abend des Tages war ein Konzert –
wie spielten mit einander … die Idee ist, von der
anderen Seite zu lernen.
Das Zusammentreffen von
Unterschieden und das Subversive an Barenboims Projekt
erreichte seinen Höhepunkt, als das Divan-Orchester im
Sommer 2004 in Ramallah spielte. Es ist für einen
israelischen Bürger, der nicht im Militärdienst ist,
illegal, die besetzten Gebieten zu betreten – abgesehen
von Siedlungen. Die israelischen Musiker mussten die
15km-Fahrt von Jerusalem durch die Mauer in gepanzerten
Fahrzeugen und mit diplomatischen Pässen, die ihnen die
spanische Regierung ausstellte. „Und da waren wir denn“,
erinnert sich Amichai, und wir machten in der neuen
Konzerthalle in Ramallah für eine arabische
Zuhörerschaft Musik. Ich war stolz darauf, dabei gewesen
zu sein und den großen Barenboim selbst so bewegt zu
sehen. Für einen Israeli war es, als ob wir die Regeln
eines schrecklichen Status quo brachen, in dem wir
leben.
….
‚Die Musik verband uns und
wenn Leute etwas zusammen tun, was sie wirklich lieben,
dann bringt es sie im Leben näher, genau wie in der
Musik.’ So war es auch bei dem Konzert in Ramallah. Es
war so schwierig, Abschied von einander zu nehmen und
sich drei Tage später wieder in Ramallah zu treffen,
weil wir auf verschiedenen Wegen fahren mussten. Ich
hatte Angst, denn alles, was ich von Ramallah wusste,
war, dass dort ( zu Beginn der 2. Intifada) der
Lynchmord an zwei israelischen Soldaten geschehen war.
Ich war aufgeregt, und es war sehr bewegend, einander
wieder zu sehen. Sie waren stolz darauf, dass wir kamen.
Es war auch seltsam, weil es nicht das übliche Publikum
war – sie klatschen zwischen den Sätzen. Aber ein
Mädchen sagte, wir wären die ersten Israelis, die sie
gesehen hat, die keine Soldaten waren. Und als es ans
Abschieden nehmen ging, weil sich unsere Wege trennten,
weinten die Leute. Es war sehr traurig, wieder ins reale
Leben zurückzugehen – hart und seltsam.’ Sagte die
israelische Musikerin Noah. Als wir sagten, wir gehen
morgen zurück nach Ramallah und besuchen Ramzi, sagte
sie, grüßt ihn von mir.
(Original 7 Seiten, hier in
Auszügen übersetzt: Ellen Rohlfs)
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