Ein
ganzes Volk einsperren
John Pilger, 22.5.07
Israel ist dabei, jede
Idee eines Staates Palästina zu zerstören und es wird
ihm erlaubt, eine ganze Nation einzusperren. Das wird
deutlich durch die letzten Angriffen auf den
Gazastreifen, dessen Leiden schon zu einer Metapher für
eine Tragödie geworden ist, die Völkern des Nahen
Ostens und drüber hinaus auferlegt wird. Diese vom
britischen Kanal 4 berichteten Angriffe wären auf
Schlüsselfiguren militanter Hamas und auf die Hamas
Infrastruktur gezielt gewesen. Die BBC beschreibt einen
„Zusammenstoß“ zwischen denselben Militanten und einem
israelischen F-16-Kampfflugzeug.
Schauen wir uns diesen
Zusammenstoß etwas näher an! Der Wagen der Militanten
war von einer Rakete aus einem Kampfflugzeug in Stücke
zerrissen worden. Wer sind diese Militanten. Meiner
Erfahrung nach sind alle Menschen in ihrem Widerstand
militant gegen ihre Gefängniswärter und Peiniger. Was
die „Hamas-Infrastruktur“ betrifft, so war es das
Hauptbüro der Partei, die letztes Jahr die
demokratischen Wahlen in Palästina gewonnen hat.
Wenn man dies so
berichten würde, gäbe es einen falschen Eindruck. Man
könnte meinen, dass die Leute im Wagen und alle anderen
Opfer der letzten Jahre, die Babys und die älteren
Leute, die mit Kampfflugzeugen „zusammengestoßen“ sind,
Opfer einer großen Ungerechtigkeit sind. Es würde auf
die Wahrheit hinweisen.
„Einige sagen“ – so der
Kanal-4-Reporter - dass „Hamas den Angriff
herausgefordert habe“. Vielleicht dachte er an die
Qassam-Raketen, die gegen Israel aus dem Gefängnis
Gaza abgefeuert wurden und niemanden getötet haben. Nach
dem Völkerrecht hat ein besetztes Volk das Recht, auch
mit Waffen gegen die Besatzer vorzugehen. Über dieses
Recht wurde noch nie berichtet. Der Berichterstatter
von Kanal 4 berichtet von einem unendlichen Krieg, als
ob die Gegner gleichartig / gleichwertig seien. Da
herrscht kein Krieg. Da gibt es einen Widerstand unter
den ärmsten, verwundbarsten Menschen der Erde, die
einer andauernden, illegalen Besatzung durch die
viertgrößte Militärmacht ausgesetzt sind. Deren Waffen
reichen von Massenzerstörungswaffen wie Clusterbomben
bis zu thermonuklearen Erfindungen, die von der
Supermacht bezahlt werden. Allein in den letzten sechs
Jahren – so schrieb der Historiker Ilan Pappe, hat die
israelische Armee mehr als 4000 Palästinenser getötet,
die Hälfte seien Kinder gewesen.
Schauen wir uns an, wie
diese Macht arbeitet. Nach Dokumenten von der United
Press International haben die Israelis die Hamas einst
heimlich finanziert als „gezielten Versuch, eine starke
säkulare PLO durch eine religiöse Alternative zu teilen
und zu schwächen – in den Worten eines früheren
CIA-Angestellten.
Heute haben Israel und
die USA diesen Trick umgedreht und Hamas’ Rivalen, die
Fatah offen mit Bestechungsgeldern von Millionen Dollars
gestärkt. Vor kurzem erlaubte Israel heimlich 500
Fatahkämpfern von Ägypten aus nach Gaza zu gelangen,
nachdem sie in Ägypten von einem anderen amerikanischen
Klientel, der Kairoer Diktatur, trainiert worden waren.
Es ist das israelische Ziel, die gewählte
palästinensische Regierung zu unterminieren und einen
Bürgerkrieg zu entfachen. Es war ihnen (bis Mai) noch
nicht gelungen. Die Palästinenser bildeten eine
nationale Einheitsregierung von Hamas und Fatah. Die
letzten Angriffe sind darauf aus, diese zu zerstören.
(Was ja dann auch im Juni gelingt! ER)
Mit Gaza im Chaos und
der eingemauerten Westbank plant Israel eine
„Hobbesianische Vision einer anarchistischen
Gesellschaft: abgestumpft, gewalttätig, ohnmächtig,
zerstört, von verzweifelten Milizen-Banden, religiösen
Ideologen und Extremisten regiert, aufgeteilt in
ethnischen und religiösen Tribalismus und
Kollaborateure. Sehen wir uns nur an, was heute im Irak
los ist!
Am 19.Mai erhielt der
Guardian einen Brief von Omar Jabary al Sarafeh, einem
Einwohner Ramallahs: „Land, Wasser und Luft sind unter
ständiger Kontrolle eines raffinierten militärischen
Überwachungssystems, das Gaza wie eine „Truman Show“
werden lässt“ schrieb er. „In diesem Film hat jeder
Gaza-Schauspieler seine Rolle zu spielen und die
(israelische) Armee benimmt sich wie ein Direktor … Der
Gazastreifen muss als das gesehen werden, was es ist …
ein israelisches Laboratorium, das von der
internationalen Gemeinschaft unterstützt wird und in dem
an Menschen wie an Versuchskaninchen die schlimmsten und
perversesten Praktiken wirtschaftlicher Erstickung und
Aushungerung getestet werden.“
Der bemerkenswerte
israelische Journalist Gideon Levy hat die Aushungerung
von Gaza mit mehr als 1,4 Millionen Einwohnern und den
Tausenden von Verwundeten, körperlich Behinderten und
von den Schallschockbomben traumatisierten, die keine
Behandlung bekommen können, beschrieben ….menschliche
Schatten schleichen durch die Ruinen … sie wissen nur
eines, dass die israelische Armee wieder zurückkommen
wird und dies für sie wochenlang noch mehr
Gefangenschaft in ihren Wohnungen bedeutet, und noch
mehr Tod und Zerstörung in monströsen Proportionen.
Jedes Mal, wenn ich in
Gaza gewesen war, habe ich die Melancholie gespürt, als
ob ich unbefugt in einen geheimen Ort des Trauerns
gekommen wäre. Rauchschwaden von Holzfeuern hängen über
den Stränden des selben Mittelmeers, das freie Völker
kennen, aber nicht hier. Entlang den Stränden, die
Touristen als malerisch ansehen, schleppen sich mühsam
die Eingekerkerten von Gaza herum, schattenhafte
Figuren gehen am Wasserrand entlang, auch durch
Abwässer. Das Wasser und der Strom sind wieder
abgestellt, nachdem die Generatoren bombardiert worden
waren. Von Kugeln durchlöcherte Mauern erinnern an die
Toten, z.B. an die Familie von 18 Mitgliedern, Männer,
Frauen und Kinder, die mit einer US-israelischen
500kg-Bombe „zusammengestoßen“ sind, als sie auf ihren
Wohnblock fallen gelassen wurde, während sie schliefen.
Vermutlich waren sie alle Militante.
Mehr als 40% der
Bevölkerung von Gaza sind Kinder unter 15 Jahren.
Nachdem Dr. Dereck Summerfield vier Jahre lang für ein
britisches Medizinjournal recherchierte berichtete er,
dass 2/3 der 621 getöteten Kinder an Checkpoints, auf
der Straße, auf dem Weg zur Schule, in ihren Wohnungen
durch kleinkalibrige Waffen getötet wurden: mehr als die
Hälfte wurde in den Kopf, ins Genick oder die Brust
geschossen – es waren Wunden von Scharfschützen. …
Ich traf Dr. Khaled
Dahlan, einen Psychiater, der einem von mehreren
Kindergesundheitsprojekten der Gemeinde in Gaza
vorsteht. Er erzählte mir von seiner letzten
Untersuchung. „Allein die Statistik ist für mich
unerträglich,“ sagte er, „99,4 % der von uns erfassten
Kinder leiden an Traumata. Wenn man sich die
Untersuchung näher ansieht, sieht man warum: 99,2% der
untersuchten Gruppe erlebten ein Bombardement des
Hauses; 97,5% waren Tränengas ausgesetzt, 96,6 % waren
Zeugen von Schießereien; 95,8% waren Zeugen von
Bombardements und Beerdigungen; fast ein Viertel sah,
wie Verwandte verletzt oder getötet wurden.
Er sagte, wenn Kinder ab
drei Jahren mit solch einer Situation konfrontiert sind,
träumen sie zunächst davon, Ärzte und Krankenschwestern
zu werden, dann geht dies in eine apokalyptische Vision
für sich selbst über, sie träumen dann, dass sie die
nächste Generation von Selbstmordattentätern werden.
Diese Erfahrung machen sie ausnahmslos nach israelischen
Angriffen. Für einige Jungen sind nicht mehr Fußballer
die Helden, sondern eine Mischung von palästinensischen
„Märtyrern“ und sogar dem Feind, „weil israelische
Soldaten die stärksten sind und weil sie
Kampfhubschrauber haben.“
Kurz bevor Edward Said
starb, klagte er verbittert die ausländischen
Journalisten wegen ihrer destruktiven Rolle an, wenn sie
von palästinensischer Gewalt ohne ihren Hintergrund
schreiben, dass diese Gewalt die Antwort eines
verzweifelten und entsetzlich unterdrückten und
leidenden Volkes sei“. Genau wie die Invasion des Irak
ein „Krieg der Medien“ war, so kann dasselbe auch von
dem grotesk einseitigen Konflikt in Palästina gesagt
werden. Wie die Pionierarbeit der
Glasgow-Universitätsmediengruppe zeigt, wird den
Fernsehzuschauern selten erzählt, dass die Palästinenser
die Opfer einer illegalen militärischen Besatzung sind;
dass der Terminus „besetzte Gebiete“ selten erklärt wird
. Nur 9% der interviewten jungen Leute in Großbritannien
wissen, dass die Israelis die Besatzungsmacht und die
illegalen Siedler jüdisch sind – viele glauben, es seien
Palästinenser. Die selektive Anwendung der Sprache durch
Medienreporter ist wichtig, um die Verwirrung und
Ignoranz aufrecht zu erhalten. Wörter wie „Terrorismus“,
„Mord“ und „brutales, kaltblütiges Morden“ beschreibt
nur den Tod der Israelis, fast nie den von
Palästinensern.
Da gibt es rühmliche
Ausnahmen. Der gekidnappte BBC-Reporter Alan Johnston
ist einer von ihnen. Doch in der Unmenge von Berichten
über seine Entführung kommen die Tausenden von
Palästinenser, die von Israelis entführt wurden und die
ihre Familien jahrelang nicht sehen, nicht vor. Für sie
gibt es keine Appelle. Der ausländische
Journalistenverband (FPA) in Jerusalem dokumentierte das
Beschießen und die Einschüchterungen seiner Mitglieder
durch israelische Soldaten. Im Zeitraum von acht
Monaten wurden viele Journalisten, einschließlich des
CNN-Bürochefs in Jerusalem durch Israelis verletzt,
einige sogar schwer. Der FPA beschwerte sich über jeden
einzelnen Fall – es gab keine befriedigenden Antworten
von Seiten des Militärs.
Eine Zensur durch
Weglassen wird von einem großen Teil der Journalisten
praktiziert, wenn es sich um Israel handelt, besonders
in den USA. Hamas wird als eine „terroristische Gruppe“
bezeichnet, die „geschworen habe, Israel zu zerstören“
und „die sich weigert, Israel anzuerkennen und gegen das
es kämpfen, aber mit dem es nicht reden wolle.“ Dies
unterdrückt die Wahrheit, nämlich, dass Israel um die
Zerstörung Palästinas bemüht ist. Außerdem wurde der
Vorschlag der Hamas, einen zehn Jahre langen
Waffenstillstand zu halten, von Israel ignoriert.
Ignoriert wurde auch der hoffnungsvolle ideologische
Wechsel innerhalb der Hamas selbst, die Israels
Herrschaft/ Existenz akzeptiert. „Die Hamas-Charta sei
nicht der Koran“ sagte ein hochrangiger Hamasanhänger,
Mohammed Ghazal. „Historisch gesehen, glauben wir, dass
ganz Palästina den Palästinensern gehört; aber wir reden
jetzt über die Realität, über politische Lösungen … wenn
Israel dahin käme, mit der Hamas reden zu können, dann –
so denke ich - wird es kein Problem geben , mit Israel
über Lösungen des Konfliktes zu reden.“
Als ich den Gazastreifen
das letzte Mal sah und auf den israelischen Checkpoint
und den Stacheldrahtzaun zufuhr, wurde ich mit einem
Schauspiel palästinensischer Flaggen begrüßt, die
innerhalb eines ummauerten Grundstückes flatterten.
Kinder waren dafür verantwortlich, wurde mir gesagt. Sie
machten aus zusammengebundenen Stöcken Fahnenstangen.
Ein oder zwei Kinder wollten auf die Mauer klettern und
still zwischen sich die Fahne halten. Sie tun dies, wenn
Ausländer in der Nähe sind, und sie hoffen, dass diese
der Welt draußen von ihnen erzählen.
(dt. Ellen Rohlfs)
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