Ein Sündenbock nach dem anderen : Angela Merkel
spricht in der Knesset
Raymond Deane, März 2008
Der historischen
Rede der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Knesset am 18.März
2008 ist fast weltweit applaudiert worden und von der Präsidentin des
Zentralrates der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, ist die Rede als
„Öffnung eines neuen Kapitels in den Beziehungen zwischen Israel und
Deutschland“ beschrieben worden.
Da Deutschland einen
großen Einfluss innerhalb der EU hat, ist es dringend geboten, Merkels Rede
genau zu lesen und die stillschweigenden Voraussetzungen in der Rede selbst
und die Reaktionen darauf in den deutschen Medien zu hinterfragen.
Nachdem sie die
„Scham“ der Deutschen für die Shoah ausgedrückt hat, fuhr sie fort, darauf
hinzuweisen, dass während man hier spricht, Tausende in Furcht und Schrecken
vor den Raketen der Hamas und dem Terrorismus leben. Ihre ungeschickte Wahl
der Worte schien das Versäumnis zu betonen, die Hunderttausende von
Palästinenser zu erwähnen, die in täglicher Furcht und Schrecken vor den
israelischen Überfällen, Hauszerstörungen, gezielten Tötungen,
Luftangriffen, Verwaltungshaft, Gefängnis und Folter leben.
Um fair zu sein, sie
hat die Palästinenser tatsächlich erwähnt: „Terrorakte …bringen keine
Lösung für den Konflikt, der die Region und das tägliche Leben der Menschen
in Israel und in den Gebieten der palästinensischen Selbstregierung
überschattet.“
Es ist also
nicht Israels Kolonisierung, der Mauerbau und der gewalttätige
Militarismus, der das Leben der Palästinenser überschattet, sondern die
Aktionen der Hamas. Man beachte, dass diese Palästinenser nicht in
„besetzen“ oder gar in „umstrittenen“ Gebieten leben, sondern in Gebieten
der Selbstregierung (Autonomiegebieten), was viel harmloser klingt. Dieser
Terminus, der in den frühen Zeiten des Osloprozesses allgemein benützt
wurde, wird jetzt nur noch von den Deutschen benützt, weil er die unbequeme
Tatsache verbirgt, dass die Palästinenser unter einer grausamen von der EU
unterstützten Besatzung leben.
„Deutschland
unterstützt sehr die Vision von zwei Staaten in Frieden und innerhalb
sicherer Grenzen – für das jüdische Volk in Israel und die Palästinenser in
Palästina …“
Bedauerlicherweise
versäumt Frau Merkel nie eine Gelegenheit, ein Klischee zu liefern, und ihre
Neigung zu „Visionen“ erinnert unbehaglich an den augenblicklichen
US-Präsidenten. Ihre Formulierung scheint hier ethnischen Nationalismus zu
unterstützen und vielleicht sogar ethnische Säuberung, da sie andeutet, dass
Israels palästinensische Bewohner ein Heim innerhalb des hypothetischen
„palästinensischen Staates“ finden sollten.
Während Angela
Merkel schließlich die wunderbare Beziehung zwischen Deutschland und Israel
bestaunt und über die Zukunft des Nahen Ostens spekuliert, zitiert sie David
Ben Gurion, Israels ersten Ministerpräsidenten : „Wer nicht an Wunder
glaubt, ist kein Realist.“
Man fragt sich, ob
es Merkel eigentlich klar ist, dass Ben Gurion seine Worte sehr bewusst
wählte. Er gab Chaim Weizmann wieder - Israels erster Präsident – für den
die ethnische Säuberung der Palästinenser eine „wunderbare Säuberung
des Landes war, die wunderbare Vereinfachung der Aufgabe Israels.“
Während ein Wunder
ein Akt Gottes ist, unabhängig von menschlichen Agenturen, war der „Exodus“
der Palästinenser die Folge einer absichtlichen militärischen Kampagne. Ben
Gurions Glaube an Wunder kommt der schlauen Gewissheit gleich, die Israel
immer wieder in die Lage versetzt, ähnliche Kunststücke zu vollbringen und
Gott dafür verantwortlich zu machen – solange es so mächtigen Rückhalt hat
wie den, den Deutschland erbärmlich stolz liefert.
Die Rede der
Kanzlerin Merkel ist – zusammengefasst – ein Kompendium von Banalitäten,
Lügen, Auslassungen, Drohungen und kriecherischem Blödsinn. Doch erhielt sie
dafür standing ovations in der Knesset, und in Deutschland grenzte
es an Verzückung. Hier nur ein Beispiel: Thorsten Schmitz in der
respektierten Süddeutschen Zeitung: „Israel würde es ohne die Deutschen
nicht geben. Der Staat der Juden ist die Antwort auf den Holocaust … Jedes
weitere Jahr, das Israel existiert, ist für das Volk im übertragenen Sinne
ein Sieg über Hitler. … Angela Merkel wollte sich nicht in der Reihe der
Gratulanten (zum 60. Geburtstag Israels) anstellen, sondern wollte sie
anführen."
Noch einmal finden
wir die ungute Mischung historischer Halbwahrheiten - der Schritt in
Richtung zur Gründung eines jüdischen Staates in Palästina begann aber
schon Jahrzehnte vor dem Holocaust, obwohl letzterer zweifellos die
Errichtung beschleunigte – verbunden mit dem Stillschweigen über die mit
der Staatsgründung und seiner Aufrechterhaltung verbundenen Verbrechen und
seiner unaufhaltsamen Ausdehnung.
Von einem deutschen
Standpunkt aus gesehen, hatte Merkels Rede natürlich einen großen Vorteil:
sie war gleichzeitig so reumütig und unkritisch gegenüber Israel, dass ihre
begeisterte Aufnahme durch die Knesset den Deutschen – oder wenigstens den
deutschen Politikern und ihren Handlangern - weiterhin ein gutes Gefühl
gibt, ähnlich einem Kind, dem gerade von einem strengen Priester all seine
Sünden vergeben wurden und das sich nun keiner unmäßig schmerzhaften
Strafe unterziehen muss.
Doch ist für
Deutschlands vergangene Verbrechen Bußgeld gezahlt worden und wird weiter
von den Palästinensern gezahlt, gegenüber deren Elend Merkel so
gleichgültig ist. Es gibt eine Bezeichnung für den, dem die Sünde eines
anderen auferlegt wird: Sündenbock. Und es gibt einen europäischen Staat,
der eine dunkle Geschichte hat, indem er ein semitisches Volk für seine
eigenen Fehlern zu Sündenböcken macht: Deutschland. Aus diesem Grund
täuschen sich diejenigen selbst sehr, wenn sie meinen, dass Deutschlands
Politik gegenüber Israel es in irgend einer Weise befreien würde. Indem
man die Opfer seiner früheren Opfer zu Sündenböcken macht, vergrößert
Deutschland seine vergangenen Verbrechen.
Wenn die Shoah auf
Deutschland eine historische Verpflichtung gelegt hat, dann geschieht dies
in großem Ausmaß gegenüber dem jüdischen Volk. Deutschland versucht, diese
Verpflichtung aber in der Weise zu interpretieren, indem es den Staat
Israel, den es während der Shoah noch gar nicht gab, bedingungslos
unterstützt, und die vom Staat umstrittene Behauptung, er vertrete alle
Juden, implizit und explizit bestätigt. Auf diese Weise entzieht Deutschland
allen Juden in aller Welt den Boden – einschließlich denen in Israel - die
sich tapfer von den Verbrechen des jüdischen Staates distanzieren. Da es
letzten Endes diese Leute sind, die den größten Einfluss auf das
israelische politische Leben haben, hilft Deutschland tatsächlich mit, eine
positive Veränderung in Israel zu verhindern. Deutschland wird solange
nicht mit seiner Vergangenheit zurecht kommen, wie es Sündenböcke benötigt
und solange, bis es seine bedingungslose Unterstützung für den israelischen
Schurkenstaat aufgibt. Solche Unterstützung ist mit bedingungsloser
Mitbeteiligung an der Enteignung und am Politizid des palästinensischen
Volkes verbunden, kaum eine Haltung, die mit
Deutschlands angeblichem Wunsch zu sühnen
übereinstimmt
. Weil die Palästinenser wiederum ein
stolzes und hartnäckiges Volk sind, die „nicht sanftmütig in jene gute
Nacht“ (um mit Dylan Thomas to reden) nationaler und kultureller
Vergessenheit gehen wollen, wird die Gewalt und das Blutvergießen auf allen
Seiten weitergehen (ich schreibe nicht auf „beiden Seiten“ , weil der Krieg
gegen das palästinensische Volk Auswirkungen über Israel und Palästina
hinaus hat.) Die israelischen Politiker und die deutschen Journalisten, die
Angela Merkel in den Himmel lobten, feiern unbewusst einen Feind des
Friedens und einen Feind der Gerechtigkeit und beteiligen sich an der
Verzögerung der Ankunft eines gerechten Friedens im Nahen Ostens.
Raymond
Deane ist Komponist und Aktivist. Er lebt einen Teil des Jahres in
Süddeutschland.
(dt.
Ellen Rohlfs)