Wer entscheidet, wie
Unterdrückte Unterdrückung bekämpfen sollen ?
Ramzy
Baroud 14. 11. 2010
Eine amerikanische Aktivistin gab mir mal ein Buch,
in dem sie über ihre Erfahrungen in Palästina geschrieben hat. Der umfangreiche
Band dokumentiert ihre Reise durch die Besetzten Gebiete, ein Land voller
Stacheldraht, Kontrollpunkte, Soldaten und Panzern. Er verdeutlicht auch, wie
Palästinenser auf friedliche Weise der Besatzung widerstehen - im Gegensatz zu
den vorherrschenden Medienbeschreibungen, die den palästinensischen Widerstand
mit Gewalt verbinden.
Vor kurzem erhielt ich auch ein Buch, das den
gewaltfreien Widerstand rühmt und von den selbst ernannten palästinensischen
Kämpfern spricht, die als „Bekehrte“ auf Gewalt verzichten. Das Buch berichtet
ausführlich von verschiedenen wunderbaren Beispielen, wie diese „Bekehrungen“
zustande gekommen sind. Anscheinend war ein wichtiger Faktor die Entdeckung,
dass nicht alle Israelis die militärische Besatzung unterstützen. Die Kämpfer
realisierten, dass ein Umfeld, das beiden – Israelis wie Palästinensern –
erlaubt, zusammen zu arbeiten, das Beste für Palästinenser sein würde, die
andere, effektivere Mittel zur Befreiung suchen.
Ein amerikanischer Priester erklärte mir auch die
eindrucksvolle Skala, auf der gewaltfreier Widerstand geschieht. Er zeigte mir
Broschüren, die er während eines Besuches bei einer Bethlehemer Organisation
erhielt, die der Jugend die Gefahren von Gewalt und die Weisheit der
Gewaltfreiheit lehrt. Die Organisation und ihre Gründer veranstalten Seminare
und Workshops und laden Redner aus Europa und den USA ein, die ihr Wissen über
dieses Thema mit den Studenten (meistens Flüchtlinge) teilen.
Immer wieder taucht ein Artikel, ein Video oder
ein Buch mit einer ähnlichen Botschaft auf: Palästinensern wird Gewaltlosigkeit
gelehrt. Die Palästinenser reagieren positiv auf die Lehren der
Gewaltlosigkeit.
Da für Progressive und linke Medien und Zuhörer
Geschichten, die die Gewaltfreiheit loben, faszinierend sind, denn sie stärken
ein Gefühl der Hoffnung, dass ein Weg mit weniger Gewalt möglich ist, dass die
Lehren von Gandhi nicht nur für Indien in einer besonderen Zeit und einem
besonderen Raum relevant sind, sondern überall auf der Welt und zu jeder Zeit.
Diese Darstellung lädt wiederholt zu der Frage ein:
wo ist der palästinensische Gandhi? Und die Antwort: ein palästinensischer
Gandhi existiert schon in zahlreichen Westbankdörfern, die neben der
israelischen Apartheidmauer liegen, wo sie friedlich israelischen Bulldozern
entgegentreten, die palästinensisches Land verschlingen.
In einem Statement, das einen kürzlichen Besuch der
Gruppe der Älteren ( the Elders) im Nahen Osten markiert, erklärte die Inderin
Ela Bhatt, eine Gandhi-Anhängerin der Gewaltlosigkeit, ihre Rolle bei der
letzten Mission der Elders: Ich würde mich freuen, in den Nahen Osten
zurückzukehren, um die Unterstützung der Elders für all jene zu zeigen, die in
kreativem gewaltfreien Widerstand gegen die Besatzung engagiert sind – und
zwar Israelis und Palästinenser.“
Für einige ist die Betonung auf gewaltlosem
Widerstand eine erfolgreiche Medienstrategie. Man bekommt wahrscheinlich weit
mehr Aufmerksamkeit, wenn man darüber diskutiert, wie Palästinenser und Israelis
gemeinsame Sit-ins organisieren, als wenn man über den bewaffneten Widerstand
militanter Gruppen redet, die die israelische Armee heftig bekämpfen.
Für andere sind ideologische und spirituelle
Überzeugungen die treibenden Kräfte hinter ihrer Beteiligung an der gewaltlosen
Kampagne, die nach Berichten in der Westbank im Gange ist. Diese Realisierungen
scheinen weitgehend von Befürwortern aus dem Westen angeführt zu werden.
Auf palästinensischer Seite ist das gewaltlose
„Markenzeichen“ auch nützlich. Es hat viele, die im bewaffneten Widerstand
engagiert waren, veranlasst, diesen aufzugeben, besonders während der 2.
Intifada. Einige Kämpfer, die mit der Fatahbewegung verbunden waren, sind nun,
nachdem sie ihre automatischen Waffen abgegeben haben und jahrelang auf der
israelischen Liste der meist Gesuchten standen, mit Kunst und Theater
beschäftigt.
Politisch wird der Terminus von der
Westbankregierung als Plattform benützt, die weiter den Gebrauch des Wortes
moqawama ( arabisch für „Widerstand“) erlaubt, aber ohne Verpflichtung eines
kostspieligen bewaffneten Widerstandes, der sicher nicht gut weitergehen würde,
wenn er von der nicht gewählten Regierung übernommen würde, die von Israel wie
von den USA als „moderat“ angesehen wurde.
Bewaffneter Widerstand wird in Palästina - ob in
unaufdringlicher oder offener Weise – immer verurteilt. Mahmoud Abbas’
Fatah-Regierung sprach wiederholt davon, dass dies sinnlos sei. Einige sagten
sogar, es sei eine kontraproduktive Strategie. Andere finden sie moralisch nicht
zu rechtfertigen.
Das Problem mit der Gewaltlosigkeit ist, dass sie
die Realität vor Ort grob verfälscht wiedergibt. Es nimmt auch die Gewalt der
israelischen Besatzung aus dem Blickfeld, die routinemäßig und tödlich in der
Westbank praktiziert wird, und auch die unsäglichen Grausamkeiten in Gaza – und
legt sie allein auf die Schultern der Palästinenser.
Was die grobe Verfälschung der Realität betrifft,
so haben die Palästinenser seit Generationen gewaltfreien Widerstand en masse
geübt – auch während des langen Streiks 1936. Gewaltfreier Widerstand ist das
tägliche Brot der palästinensischen moqawama gewesen und ist es noch,
also seit der britischen Kolonialzeit bis zur israelischen Besatzung.
Gleichzeitig kämpften einige Palästinenser gewalttätig (Hebron 1929 ER) , von
der extremen Gewalt, die ihre Unterdrücker gegen sie anwandten, gezwungen. In
ähnlicher Weise kämpften auch Inder gewalttätig, sogar während der Zeit, als
Mahatma Gandhis Ideen der Gewaltlosigkeit ihre Hohe Zeit hatten.
Diejenigen, die Indiens Geschichte auf einen
antikolonialen Kampf reduzieren, tun nun dasselbe den Palästinensern an.
Eine falsche Interpretation der Geschichte führt
zu einer irrtümlichen Beurteilung der Gegenwart und zu einer fehlerhaften
Beschreibung für die Zukunft. Für einige können es die Palästinenser unmöglich
recht machen, ob sie auf Unterdrückung gewaltlos oder gewalttätig reagieren
oder mit politischer Missachtung oder mit äußerster Unterwerfung. Die
Verantwortung wird immer bei ihnen selbst liegen, um zu einer Lösung zu kommen
und es kreativ tun und in einer Weise, wie es unserer westlichen Sensibilität
passt und unserer oft selektiven Interpretation von Gandhis Lehren.
Gewalt und Gewaltlosigkeit sind meistens kollektive
Entscheidungen, die von spezifischen politischen und sozioökonomischen
Bedingungen und Zusammenhängen ausgelöst werden. Leider spielt die Gewalt des
Besatzers eine enorme Rolle bei diesen Bedingungen und Voraussetzungen. Es ist
nicht überraschend, dass die 2. palästinensische Intifada viel gewalttätiger
war als die 1. und dass der gewalttätige Widerstand in Palästina nach dem
libanesischen Widerstand im Jahr 2000 und 2006 noch einmal einen großen
Auftrieb bekam..
Diese Faktoren müssen ernsthaft und mit
Bescheidenheit bedacht und ihre Vielschichtigkeit berücksichtigt werden, bevor
verurteilt wird. Keine unterdrückte Nation sollte mit den Forderungen
konfrontiert werden, mit denen es Palästinenser ständig zu tun haben. Es mag
sehr wohl tausend palästinensische Gandhis geben. Es mag auch keine geben.
Ehrlich gesagt, ist dies auch nicht wichtig. Allein die einzigartige
Erfahrung des palästinensischen Volkes und ihr wirklicher Kampf für Freiheit
könnte ergeben, was Palästinenser als ein Kollektiv für sich als passend und
richtig erachten. Genau so war es mit dem Volk in Indien, Frankreich, Algerien,
Südafrika und vielen anderen Nationen, die sich nach Freiheit sehnten und sie
schließlich erhielten.
Ramzi Baroud ist ein international arbeitender
Kolumnist und der Redakteur von PalestineChronicle.com Sein letztes Buch
„Mein Vater war ein Freiheitskämpfer: Gazas nicht erzählte Geschichte“. (Pluto
Press, London) nun auch bei Amazon.com erhältlich.
(dt. Ellen Rohlfs)