Rede von
Nurit Peled-Elhanan zum 45.
Jahrestag der Besatzung 9.
6.12.
( aus dem
Hebräischen ins Englische
übers.: George Malent)
Heute Abend widme ich meine
Worte den drei
Hungerstreikenden. Mahmud
Sarsak, der sich seit 83
Tagen im Hungerstreik
befindet; er ist ein
ausgezeichneter
Fußballspieler aus dem
Gazastreifen; er wurde vor
drei Jahren entsprechend dem
Gesetz gegen illegale
Kämpfer verhaftet, was
bedeutet, dass er eine
lebenslange Haftstrafe
bekommen kann - ohne
Gerichtsverhandlung und ohne
Verurteilung. Akram Rikhawi,
der seit 2004 im Gefängnis
einsitzt sich und seit 12.
April im Hungerstreik
befindet, aus Protest gegen
seine Nichtentlassung,
trotz seines schlechten
Gesundheitszustandes. Und
Samer al Barq, der seinen
Hungerstreik wieder aufnahm,
nachdem er mit dem
Unterzeichnen des Abkommens
in erneute Administrativhaft
kam, während Andere in
Freiheit kamen. Diese
Gefangenen leben noch, weil
„wenn die Freiheit die Seele
eines Menschen in Besitz
nimmt, selbst Gott sie nicht
anrühren kann“ (Jean Paul
Sartre). Nicht der Gott der
Zionisten, noch der
israelische Todesengel.
Diese Gefangenen und
Tausende wie sie,
einschließlich der mehr als
20 Parlamentsmitglieder,
selbst der
Parlamentssprecher Dr. Aziz
Dweik, werden seit Jahren
ohne Gerichtsverfahren oder
Urteilsspruch unter
demütigenden Bedingungen –
ohne Besuche und Hoffnung -
festgehalten. Sie sind die
Freiheitskämpfer dieses
Landes, die uns immer wieder
daran erinnern, dass wir
alle unter Besatzung leben,
und nur ihre Befreiung wird
auch unsere eigene Freiheit
wiederherstellen.
Die arabischen Bürger
Israels haben jetzt seit
fast 65 Jahren unter
Besatzung gelebt und die
jüdischen Bürger Israels
leben unter einer
Belagerung, die sie sich
selbst auferlegt haben. Wir
alle sind Untertanen eines
kolonialistischen Regimes,
das Aneignung von Land und
Wasser -reserven, ethnische
Säuberung, Zerstörung der
Landschaft und des
menschlichen Geistes
einschließt. Eine Sprache
und Kultur, die zu nichts
anderem dient, außer um
auszudrücken, dass sie
erobert wurde. Die arabische
Sprache und Kultur sind
bewusst und institutionell
aus dem Leben der Juden
entfernt worden, sodass wir
unsere Kinder nicht daran
erinnern und sie lehren
können, dass "es auch eine
Liebesgeschichte zwischen
einem arabischen Dichter und
diesem Land gibt." (Mahmud
Darwish). Somit hat sich
Israel seit seiner
Errichtung in der Art eines
unterdrückerischen Regimes
am Leben erhalten, als eine
fremde Gesellschaft und eine
Kultur, abgeschnitten von
diesem Ort, seinen
Bewohnern, seinen Gerüchen
und seines Geschmacks. Sogar
die Bäume und Blumen in
unseren Gärten sind
Fremdkörper und gehören
nicht hier her. Diese
Entfremdung zeugt immer
wieder davon, dass am
Gründungstagtag Israel
seine Flagge stolz mit dem
Symbol der Apartheid und
des Rassismus schmückt und
das Symbol der Freiheit und
Brüderlichkeit, das die
Demokratie sichert, meidet.
In diesem Jahr bewies das
Apartheid-Regime des
jüdischen Staates seine
vollkommene Loyalität
gegenüber Rassismus und den
Prinzipien des Rassismus. 25
rassistische
Gesetzes-anträge wurden
vorgelegt, und mehr als zehn
rassistische Gesetze wurden
in diesem Jahr
ver-abschiedet, und kaum ein
israelischer Bürger ist
protestierend auf die
Straßen gegangen. Mehr als
dreihundert Menschen, ohne
Gerichtsverhandlung im
Gefängnis, begannen vor
zwei oder
mehr Monaten mit einem
Hungerstreik – doch kaum
ein jüdischer Bürger ging
auf die Straße.
Tausende von Kindern gehen
in Ost-Jerusalem nicht zur
Schule, weil das jüdische
Bildungsministerium keine
Klassen für sie zur
Verfügung stellt oder weil
das rassistische
Bürgergesetz sie zu Bürgern
von „nirgendwo“ macht – und
kein Israeli protestiert.
Die Trennung von Familien,
die Bevölkerungsexplosion,
die Landenteignungen,
Kinder, die nachts aus ihren
Betten gerissen und grausam
verhört, Familien die aus
ihren Wohnungen auf die
Straße vertrieben werden,
Bauern, die von
Kippatragenden Siedlerbullen
schikaniert werden, und zwar
unter dem Schutz der Armee
und den Gesetzen der
Regierung – und kaum jemand
geht protestierend auf die
Straßen. Dies ist die
Spitze dessen, was die
zionistische Bewegung
erreicht hat.
Der Staat Israel, offiziell
als Apartheidstaat
bezeichnet, zeichnet sich
dadurch aus, was schon immer
die typischste und
erfolgreichste Methode von
Rassismus war: Die
Gruppeneinteilung von
Menschen. Die hebräische
Sprache, die unter dem
Schutz der Besatzungsarmee
und der Bürokratie immer
hässlicher wird , ist voller
Klassifikationen: Da gibt es
Leute, die ein Krebsgeschwür
im Herzen der Nation sind,
und es gibt Leute, die eine
Sicherheitsgefahr sind, und
andere, die eine Plage, ein
demographischer Alptraum
oder ein Gesundheitsrisiko
sind. Alle werden in einer
Weise klassifiziert und
kategorisiert, dass sogar
die ignorantesten und
rüpelhaftesten der Minister
Israels es fertig brachten,
diese Kategorisierung
auswendig zu lernen.
Wir werden alle
klassifiziert. Wir werden
alle von den rassistischen
Gesetzen dieses Ortes
kontrolliert und freiwillig
in Ghettos gesperrt. Das
zionistische Ghetto hat
gelernt, nichts von dem
jenseits der sie umgebenden
Mauern zu sehen und zu
hören; die wirklichen Mauern
sind aus Beton gebaut - die
immaginären Mauern aus
Gehorsam, Hass und
schrecklicher Angst. Wir
wagen nicht, gegen die
rassistischen Gesetze
aufzubegehren, wir wagen
nicht, uns Anzeichen von
Rassismus zu widersetzen;
wir wagen nicht, gefolterte
Kinder zu verteidigen, wir
wagen nicht, die
Mauern/Zäune von Gaza zu
durchbrechen, wir wagen
nicht, nach Hebron und
Deheische, nach Jenin und
Ramallah zu gehen und nach
unsern Nachbarn zu fragen.
Das ist der große Sieg der
Besatzung. Unter dem
Deckmantel der Besatzung,
entscheiden wir uns immer
wieder, uns unter die Regel
der Kriminellen, der
Ignoranten und Rüpel zu
stellen. So strafen wir uns
selbst für unsere
Hilflosigkeit und die
Vernichtung unseres Geistes.
Jahr für Jahr bringen wir
unsere Kinder an die
Schultore und lassen sie in
einem Bildungssystem lernen,
das Geschichtsbücher
verbrennt und Bücher
autorisiert, die zum Mord an
Kindern aufhetzen. Wir
überlassen sie der
Gehirnwäsche und den Lügen
über den gewonnenen
Befreiungskrieg und den
Jerusalemstag, als Zeichen
unserer Eroberung und die
Parade von Samaria, das uns
gehört, wir lassen sie mit
nach Hebron nehmen, der
Stadt der Patriarchen und
zur Davidstadt… Die Lehrer
dieses Systems schrecken
nicht zurück, wenn sie dazu
aufgerufen werden, ihre
Schüler mit verlogenen
Geschichten über unsere
historischen Rechte auf das
Land der Nachbarn zu
vergiften, auch über das
Heldentum und den Sieg, wenn
es in Wirklichkeit ethnische
Säuberung war, inspiriert
und geplant von den
Institutionen des Rassismus.
Der ganze Sinn und Zweck der
israelischen Bildung ist,
die Kinder zu gehorsamen
Soldaten der israelischen
Besatzungsmacht zu erziehen.
Wir beugen unsere Häupter,
wenn die
institutionalisierteste,
terroristischste
Organisation der Welt unsere
Kinder von uns nimmt und sie
in ihre Ränge aufnimmt und
sie lehrt, wie man Menschen,
Kinder und sogar Babys, wie
man Schmerz und die Toten
klassifiziert. All dies, um
ihre Herzen zu verhärten und
ihre Sinne abzustumpfen, so
dass sie später dann guten
Gewissens missbrauchen,
zerstören und töten können.
Wir sind bis zu einem Grad
besetzt, dass selbst, wenn
das menschliche Wesen zu
Blut wird, wir weiter
klassifizieren ohne zu
verstehen, dass wir alle,
die Toten und die Lebenden,
Opfer der korrupten
Besatzung sind.
Wir fühlen den Schmerz der
Eltern des einen gefangenen
jüdischen Soldaten und
lassen den Schmerz der
Eltern von Tausenden
verhafteter
palästinensischer Kinder
nicht an uns heran, von
Eltern, die jahrelang ihre
gefangenen Kinder im
Gefängnis nicht besuchen
dürfen, weil der geforderte
Preis für den Besuch
Zusammenarbeit mit dem
Unterdrücker bedeutet. Wir
ignorieren das Leiden der
Kinder im Gazastreifen, die
am Rande des Todes leben,
als Opfer schlechter
Ernährung und dem Mangel an
medizinischer Versorgung,
ohne elektrischen Strom,
ohne Recht auf Bildung und
Lebensunterhalt, ohne Chance
und ohne Hoffnung.
Wie heute jeder weiß, war
der Krieg von 1967 keiner
„bei dem wir keine andere
Wahl hatten“. Es war eine
übermütige Tat aus der
Wagenburg junger Generäle,
heißblütiger Fohlen., die im
zionistischen Ghetto
aufgewachsen sind und davon
träumten, zu erobern. Sie
trainierten und trainierten,
bis es nichts mehr zu
trainieren gab. Sie
ergriffen den Vorteil eines
Augenblickes der Dummheit
auf Seiten der Nachbarn und
durchbrachen alle
Hindernisse, warfen alle
Einschränkungen beiseite, um
zu erobern, die Grenzen zu
erweitern und fröhlich zu
zerstören – mit vergifteten
Gefühlen und allmächtiger
Übermacht , aber ohne Plan
für die Zukunft, ohne einen
Gedanken für die Tage danach
und die Millionen von
Menschen, die dann über
Nacht Untertanen wurden. Um
die Verwüstung und
Zerstörung zu rechtfertigen,
wurden offizielle
Mystifizierer bemüht, um
jedem profanen Töten einen
biblischen Vers anzuhängen.
Eine ganze Nation wurde in
den Strom von Plünderung und
Ausbeutung gerissen, und
übertraf sich jedes Jahr
selbst, weil der jüdische
Genius von dem Moment an, in
dem er sich für die Aufgabe
des Ruinierens und
Zerstörung entschied, die
Verwüstung und das Töten
nicht aufgehört hat, sich
immer neue Patente hat
ausstellen lassen.
Nun, da die Besatzung
beginnt, ihre Auswirkungen
auf die Lebensqualität des
herrschenden Volkes zu
zeigen, steht es auf und
verlangt soziale
Gerechtigkeit. Aber auch
soziale Gerechtigkeit ist
klassifiziert. Soziale
Gerechtigkeit ist für
Bewohner dieses Ghettos,
nicht für jenes Ghetto. Die
Bewohner jenes Ghetto
könnten nur unsere soziale
Gerechtigkeit verderben,
wenn wir sie in unsere
Forderungen einschlössen,
wenn wir ihnen ein Forum
geben, wenn wir ihre Stimmen
hören lassen und sie
einfordern lassen, was ihnen
gehört. Weil jenes Ghetto
aus Gründen der Sicherheit
besteht und seine Bewohner
keine Opfer von
Ungerechtigkeit und
Rassismus sind, aber ein
Sicherheitsproblem
darstellen, jeder einzelne
von ihnen. Und wenn sie
getötet werden, hat das
nichts mit Rassismus zu tun,
sondern mit politischen
Erwägungen - wir befassen
uns nicht mit Politik! Darum
ist diese Bewegung für
soziale Gerechtigkeit ein
Fehlschlag, von Anfang an
wie „an die Wand
geschrieben“, das
spektakulärste Produkt des
israelischen
Bildungssystems.
Wehe uns, dass die
Kriminellen der Besatzung
heute unsere Kinder sind.
Wehe uns, dass wir uns so
dem Rassismus unterworfen
haben, dass wir den
Apartheid-Kriminellen
erlaubt haben, unsern Geist
in Besitz zu nehmen und uns
von allem abzuschneiden, was
menschlich und gerecht ist,
von allem, wie Frieden und
Ruhe, gute Nachbarschaft,
Liebe zur Menschlichkeit
Barmherzigkeit und
Mitgefühl, um ihre
grundlegenden Ziele zu
erreichen. Der Geist der
hunger-streikenden
Gefangenen und ihre
überfüllten Zellen atmen
Freiheit – unser Geist
dagegen ist unterdrückt und
hat aufgegeben. Wir leben in
einem Ghetto, das keine
Stadt und keine Heimat hat,
seine Sprache ist nicht die
lokale Sprache. …
Die Zeit ist gekommen, dass
wir uns unseren Nachbarn im
ganzen Nahen Osten
anschließen, das Loblied der
wahren Rebellion singen, die
Öffnung der Grenzen erklären
und den Durchbruch der
Checkpoints, die Tore der
Gefängnisse aufbrechen, die
Oliven- und Weingärten an
ihre Besitzer zurückgeben,
dass die Kinder Palästinas
an ihre Grenzen und zu ihrem
Land zurückkehren können und
wieder entdecken, was sie
verloren hatten und was
unter den genagelten
Stiefeln der fetten Schläger
zertrampelt wurde. Erst
dann, wenn die wahren Kinder
dieses Landes uns erlauben,
zu lernen wie man hier lebt
und wir selbst könnten in
der Lage sein, uns von der
Besatzung zu befreien und
frei von Furcht zu sein, wie
Menachem Begin sagte: „Das
Wesentliche der Freiheit ist
das Freisein von Angst ,
weil Angst nicht weniger
schrecklich ist, als ein
Herrscher, der verborgen
ist.“
Unter uns liegt die Angst
offen; unter uns ist es die
Angst, die die Gewalt hinter
jeder Aktion begründet.
Angst vor der Verweigerung
in der Besatzungsarmee zu
dienen, Furcht einen
gerechtfertigten Boykott der
Siedlungsprodukte zu
unterstützen, Furcht, die
Nachbarn zu besuchen. Schon
Kindergartenkinder, die vor
ein paar Monaten aus
Äthiopien hierher kamen,
wissen schnell, wen sie
hassen und wen sie fürchten
sollen. Ihnen wurde Terror
und Furcht vor „den
Arabern“, die sie nie
gesehen haben, eingeimpft.
Sie waren sicher, dass es
die Araber waren, die den
Tempel verbrannten, die die
Juden in Deutschland
ermordeten, die sie in
Gondar verhafteten, die
überall auf Lauer lagen. Wir
müssen unsere Kinder von den
Mauern der Furcht befreien
und sie die Grundlagen der
Freiheit und Verantwortung
lehren, ihnen und uns
erklären, dass eine Person,
die den Beschränkungen
gehorcht, die verhindern,
sich frei zu bewegen, sogar
wenn es sich um Hebron oder
Jenin oder Ramallah handelt
– ist keine freie Person,
sondern eine eroberte
Person. Eine Person, die
Gesetze erfindet, die die
Fähigkeiten ihrer Nachbarn
einschränkt, Schulbildung zu
bekommen und seinen
Unterhalt zu verdienen, ist
eine bezwungene Person, eine
Person unter Belagerung.
Diese Belagerung kann nur
durch Widerstand der Art
aufgehoben werden, wie wir
ihn in Bilin und Nilin, Baba
Sala, Maasara sehen und
durch mutigen zivilen
Ungehorsam, mit einem
glatten „nein“ – wie es
unsere Nachbarn tun.
Ich will mit ein paar
Zeilen von Almog Bethar
schließen, der folgendes an
Mahmoud Darwisch schrieb.
An meinen Bruder Mahmoud
Darwisch, der unsere
Geschichte widersprüchlich
machte
Und mich zwischen die hohen
Türme setzte
Die dort stehen, um über die
schweren Tore Gazas zu
wachen
Und die Fenster der Häuser
durch das Zielfernrohr zu
beobachten.
Wer errichtete zwischen uns
Mauern aus Beton und Stahl
mit Augen von Cameras
Und teilte uns in Eroberer
und Eroberte ein -
Obwohl wir Brüder sein
sollten?
(dt.- aus dem Englischen -
Ellen Rohlfs. unter
Mitarbeit von Günter Schenk)