Offener Brief an Bundeskanzlerin
Angela Merkel des Historikers Dr.
Meir Margalit, der der israelischen Friedensbewegung angehört
Sehr geehrte
Frau Merkel,
Schon seit
langem hat man in Israel keine Reden gehört, die solchen
zionistischen Pathos hatten, wie die jene, die Sie bei Ihrem Besuch
in Israel vor einer Woche hielten. Sie haben während Ihres
dreitägigen Besuchs sehr klar gemacht, wie sehr Sie den Staat Israel
unterstützen und ihm gegen seine Feinde beistehen. Acht Minister,
unzählige Regierungsangestellte und Sicherheitskräfte haben Sie
mitgenommen, um mit großem Aufwand bei Ihren Gastgebern einen guten
Eindruck zu hinterlassen.
Trotz des
Vorgenannten muss ich Sie jedoch, bei allem Respekt, darauf
hinweisen, dass Sie uns keine gute Tat erwiesen haben:
Wenn Sie nämlich
wirklich nur Israels Wohl im Sinne gehabt hätten, dann hätten Sie
die Palästinenserfrage zumindest erwähnt. Stattdessen taten Sie so,
als ob es diese überhaupt nicht gäbe. Sie hätten mit klaren Worten
erwähnen müssen, dass die israelische Besatzung der
Palästinensergebiete unmenschlich ist und enden muss, dass Israel
die besetzten Gebiete räumen, die Siedlungen auflösen und die
Belagerung des Gazastreifens beenden muss.
Wenn Sie nämlich
wirklich nur Israels Wohl im Sinne gehabt hätten, dann hätten Sie
Abu Mazen zumindest einen Besuch abgestattet, und sich mit dem
palästinensischem Unabhängigkeitskampf solidarisch gezeigt.
Wenn Sie wirklich
an der Seite Israels gegen seine Feinde stehen wollten, dann hätten
Sie zuallererst den Staat Israel selbst kritisiert. Die größte
Gefahr, die Israel zu fürchten hat, geht nämlich ironischerweise
nicht von Iran, sondern Israel selbst aus. Seit 1967 betreibt der
Staat Israel nämlich ein System der Selbstvernichtung. Jeder, der
sich um das Wohl des Staates Israel bemüht, muss ihm helfen, dieses
System zu beenden.
Ich bin mir sicher,
dass Sie gebildet genug sind, das zu wissen. Auch weiß ich, dass das
Schuldbewusstsein des deutschen Volkes Ihnen nicht die Möglichkeit
lässt, den jüdischen Staat offen zu kritisieren. Zudem kann
unterstellt werden, dass israelische Politiker Ihnen in diesem Falle
vorwerfen, eine Antisemitin zu sein. Trotzdem sollten Sie sich nicht
davon abbringen lassen, denn der wirkliche Antisemit ist der, der
angesichts der Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten
schweigt, da für jedermann evident ist, dass die Fortsetzung der
Besatzung das Ende des Staates Israels nach sich ziehen wird. Und
falls man Ihnen vorwirft, ein Antisemit zu sein, können Sie ja Ehud
Olmert selbst zitieren, der vor drei Monaten sagte, dass wenn die
Besatzung nicht beendet wird, der Staat Israel beendet wird.
Ich würde Sie gerne
darauf hinweisen, Frau Merkel, dass sich die Mehrheit der Israelis
eingesteht, dass die Besatzung unertragbar ist und uns nicht weniger
Schaden zufügt als den Palästinensern. Jedoch fehlt der israelischen
Regierung die Kraft, die einzige Operation durchzuführen, die unser
Leben retten kann: Die Entfernung des Tumors, der sich "[Besetzte]
Gebiete" nennt. Durch diesen Tumor bluten wir ununterbrochen, und er
macht uns von Tag zu Tag schwächer.
Und daher brauchen
wir keine Solidaritätsbekundung und auch keine pro-zionistischen
Reden, sondern internationalen Druck, der die Besatzung beenden
kann. Allein schaffen wir das nämlich nicht. Jedoch mit Hilfe
unserer europäischen Freunde gibt es eine Chance, Ruhe und Frieden
für beide Völker zu erreichen.
Zum Schluss möchte
ich Sie gerne darauf hinweisen, dass ich zwar kein Moralist bin,
aber dennoch denke, dass Sie eine der wichtigsten moralischen
Lektionen des Zweiten Weltkrieges ignoriert haben: Nämlich, dass man
bei Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen darf, und dass man
gegen jedes Regime, dass ein fremdes Volk unterdrückt, kämpfen muss.
Heute sind wir leider die Unterdrücker. Es ist daher Ihre Aufgabe,
mit lauter Stimme zu sagen, dass es im 21. Jahrhundert keinen Platz
für Besatzungsmächte und Unterdrücker gibt. Und es ist Ihre Aufgabe,
zu sagen, dass jedes Volk ein Recht auf Selbstbestimmung hat.
Israel braucht
diesen Druck, um seiner selbst willen. Wer Israel liebt, muss Druck
auslösen, bis die Besatzung beendet ist.
Mit freundlichen
Grüssen,
Dr. Meir Margalit
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