Wir haben keine
andere Wahl als Frieden
Bericht von der Demonstration auf dem
Rabin-Platz in Tel-Aviv am 4.11.06 von Adam Keller (
Gush Shalom)
Samstag, 4.November. Das blutigste
Wochenende in diesem Jahr. Die Anzahl der Toten
unter den Palästinensern im belagerten Beit Hanun
steigt mit jeder Nachrichtenmeldung. Am Nachmittag
wurde vom Tod eines zwölfjährigen Mädchen
berichtet, es wurde direkt in den Kopf geschossen.
"Der Scharfschütze hielt es für einen bewaffneten
Militanten", lautet eine flüchtige Erklärung des
Armeesprecher-Büros. Das Töten geht weiter.
Der verantwortliche Mann (zumindest
nominell) dieses randalierenden Molochs ist Amir
Perez, Führer der Arbeits-Partei und
Verteidigungsminister Israels. Genau vor einem Jahr
war es Amir Perez, der am alljährlichen Gedenktag
für Rabin auf die Bühne stieg – um sich zu Rabins
Nachfolger zu salben und von seinem Traum zu
sprechen dass "eines Tages israelische und
palästinensische Kinder zusammen im Niemandsland
zwischen Israel und dem Gazastreifen spielen
werden"...
Klugerweise entschieden die
Organisatoren der diesjährigen
Rabin-Gedenkveranstaltung, grundsätzlich keine
Politiker als Redner zuzulassen. Wahrscheinlich hat
dieser Beschluss Peretz vor einem Empfang mit
Dauerpfeiffen und Buh-Rufen von denen bewahrt, die
guten Grund haben, sich von ihm betrogen zu fühlen.
Die Friedens-Gruppen haben diese
Demonstration zur Eröffnung für ihre Kampagne in
diesem Monat gegen die Belagerung und das Blutbad in
Gaza gemacht. Um sieben Uhr waren Dutzende von
Aktivisten vor dem Rabin-Platz versammelt, Jana
Kapanova von der Frauen-Friedens-Koalition
koordinierte energisch die Vorbereitungen. Ein
großer Helium-Behälter wurde aufgestellt, um die
schwarzen Ballons mit der Aufschrift "SOS Gaza" zu
füllen. Gelbe Leucht-Westen wurden von Autobesitzern
eingesammelt, um die Menschenkette auffälliger zu
gestalten, Pakete mit Stickern "Gaza – löst die
Belagerung auf, Stoppt den Krieg" und dem Logo mit
dem Stacheldraht, der zum Olivenzweig wird, werden
verteilt. an die jungen Leute, zusammen mit der
Broschüre "Häufige Fragen über Gaza: Was haben wir
davon, dass wir aus Gaza abgezogen sind? - Nichts.
Weil wir es unilateral getan haben, ohne
verhandeltes Abkommen, das den Beschuss mit
Qassam-Raketen verhindert hätte. Wir sind auch gar
nicht abgezogen, Israel kontrolliert die Zugänge zum
Gazastreifen. Warum sollte ich mich um die
Palästinenser kümmern? - Wenn Du Deine Nachbarn in
ein großes Gefängnis sperrst und sie aushungerst,
hast Du ein Pulverfass geschaffen, das Dir ins
eigene Gesicht explodiert!")
Andere Gruppen und Bewegungen kamen
mit einer Vielfalt von Stickern, Flugblättern,
Broschüren an, mit Ballons, Plakaten und blauen
Bändern, die an den Streit im letzten Jahr um den
Abzug Sharons erinnerten... auf den blau-schwarzen
Plakaten von "Peace Now" stand: "Olmert und Peretz –
Ihr habt seinen Weg verlassen!" (Ein bisschen
unfair, da Olmert nie behauptet hat, ein Nachfolger
Rabins zu sein...) Meretz hatte in Grün auf Weiß:
"Rabin, wir sind mit Dir – die Arbeitspartei ist mit
Lieberman!"
Der Einzug des Erzrassisten Avigdor
Lieberman in die Regierung, mit Zustimmung der
Arbeitspartei, war auch das Thema auf einem
Flugblatt von Hadash [Partei für Demokratie und
Frieden] und diversen handgemalten Plakaten von
jungen Leuten, die aus keiner Organisation kamen.
Die Unterstützer der Genfer
Initiative verteilten ihre Landkarten für
"gegenseitigen minimalen territorialen Austausch
zwischen Israel und Palästina" und die Plakate von
"Eine Stimme" fragten: "Was bist DU bereit zu tun,
um den Konflikt zu beenden?" , die "Fünfte Mutter"
hatte: "Nur Dialog kann gute Nachbarschaft bringen".
Die "Studierende und Arbeitende
Jugend", wie jedes Jahr in ihren blauen Hemden
massiv präsent, leistete den feierlichen Schwur:
"Wir werden weder vergessen noch vergeben, denen die
den Hass schürten, die maßlos hassten, die die
Demokratie geschädigt haben, und jede Chance auf ein
Leben in Frieden untereinander und mit unseren
Nachbarn verhindert haben. Wir schwören, den Weg
Jizhak Rabins weiter zu gehen, der ermordet wurde,
weil er nach Frieden strebte."
Inzwischen warben Mitglieder der
Homosexuellen-Gemeinde um Unterstützung für ihre
umstrittene Straßen-Parade in Jerusalem ("Wenn Ihr
an ein liberales, offenes Jerusalem glaubt, kommt
und marschiert mit uns"). Sie erhielten
Schützenhilfe vom "Sozialistischen Kampf" ("Die
Opposition der Parlamentsmitglieder und der Polizei
beweist die inhärente Homophobie des Establishment.
Eine weite soziale Solidarität muss mobilisiert
werden!") Und Tzedek (Gerechtigkeit) machte den
dringenden Appell: "Der neue Regierungshaushalt
zwingt zu tiefen Einschnitten in Sozialleistungen,
Bildung und Gesundheit, weitere zigtausende von
Kindern werden unter die Armutsgrenze gedrückt.
Kommt morgen Abend mit uns vor das Haus des
Finanzministers, um den hungrigen Kindern eine
Stimme zu geben!" Auch die Tierschützer waren da:
"Wenn Du Fleisch isst, solltest Du wissen, dass
dieses Fleisch genauso leben wollte wie Du!"
Plötzlich tönt aus den mächtigen
Lautsprechern die Stimme Rabins – so wie er vor elf
Jahren an dieser Stelle gesprochen hatte, stark und
zuversichtlich, nicht ahnend, dass es der letzte Tag
seines Lebens war: "Ich war ein Mann der Armee. Ich
habe gekämpft, als Kämpfen nötig war. Wenn aber die
Chance auf Frieden kommt, muss man sie wahrnehmen.
Und diese Chance ist reell, Friede ist möglich!"
Seinerzeit , auf dem Höhepunkt von Oslo, etwas
banale Worte, die rückblickend an Bedeutung
gewinnen, Jahre danach, wenn der Glaube schon an die
Möglichkeit eines Friedens schwindet.
Dann stiegen, einer nach dem anderen,
bekannte Künstler auf die Bühne, um zu singen,
einige der Lieder mit politisch bedeutenden Worten,
andere nach jahrelanger Wiederholung ziemlich hohl
geworden.
Inzwischen führte der
Gush-Shalom-Sticker "Mit Hamas reden!" zu einigen
Debatten. Manche nahmen ihn begeistert auf, andere
mit verlegenem Lächeln, es gab aber auch einige
Gegner, auch hier, in diesem Milieu: "Warum? Es sind
Extremisten, Terroristen!" - "Schau mal, was auf der
Seite steht: 'Frieden macht man mit dem Feind.' Das
genau hat Rabin gesagt, für den wir heute hierher
gekommen sind." - "Aber die sind so reaktionär!"
"Und was ist mit unserer Regierung? Sind die
progressiv? Lass unsere Reaktionäre mit den ihren
sprechen!"
Plötzlich Stille. Der Schriftsteller
David Grossman steigt aufs Podium, er will eine
Grundsatzrede halten (es war eigentlich die
einzige), die live in Radio und Fernsehen übertragen
werden sollte.
Grossman war in letzter Zeit viel im
Scheinwerferlicht. Er hatte den zweiten Libanonkrieg
anfangs befürwortet, später änderte er seine Meinung
und machte einen dramatischen Appell zum
Waffenstillstand, den die Regierung ignorierte –
Sein Sohn wurde im letzten Gefecht des Krieges
getötet.
"Es hat einen Krieg gegeben..
Israel ließ seine mächtigen
militärischen Muskeln spielen – aber dahinter wurden
seine Unzulänglichkeit und seine Zerbrechlichkeit
sichtbar. Uns wurde klar, dass die militärische
Macht in unseren Händen am Ende allein nicht unsere
Existenz sichern kann. Vor allem haben wir entdeckt,
dass Israel in einer viel tieferen Krise steckt, als
wir befürchtet haben, fast in allen Lebensbereichen.
Ich spreche hier als einer, dessen
Liebe für dieses Land schwierig und kompliziert ist,
trotzdem ist sie eindeutig; und als einer, dessen
Verbindung mit diesem Land zu seinem Unglück mit
Blut besiegelt wurde. Ich bin ein vollkommen
säkularer Mensch, trotzdem ist in meinen Augen die
Entstehung, die schiere Existenz des Staates Israel
eine Art Wunder, das uns als Volk geschehen ist –
ein politisches, nationales, menschliches Wunder.
Ich vergesse das keinen Augenblick lang, auch wenn
viele Dinge in der Wirklichkeit unseres Lebens mich
empören und deprimieren, auch wenn dieses Wunder
immer mehr zu erbärmlichen Alltäglichkeiten
verkümmert, zu Korruption und Zynismus, auch wenn
die Realität wie eine schlechte Parodie dieses
Wunders aussieht, ich erinnere mich immer daran.
"Sieh her Land, wir haben all das
verschwendet", schrieb der Dichter Schaul
Tschernekovsky 1938. Er trauerte darüber, dass wir
der Erde dieses Landes immer wieder junge Leute in
der Blüte ihres Lebens übergeben.
Der Tod junger Menschen ist eine
schreckliche Verschwendung. Aber genau so
schrecklich ist das Gefühl, dass Israel nicht nur
das Leben seiner Söhne verschwendet, sondern auch
die wunderbare Gelegenheit, die ihm gegeben wurde,
- die seltene, von der Geschichte gegebene
Gelegenheit, hier einen aufgeklärten demokratischen
Staat zu schaffen, nach jüdischen und universellen
Werten. Ein Staat, der Juden nicht nur eine Zuflucht
gibt, sondern einen neuen Sinn für ihr Leben. Einen
Staat, der es als untrennbaren Teil seiner jüdischen
Identität und seines jüdischen Ethos betrachten
würde, seine nicht-jüdischen Bürger mit voller
Gleichberechtigung und Respekt zu behandeln. Und
seht, was passiert ist! (lauter Beifall)
Seht, was mit dem jungen, kühnen,
begeisterten Land geschah, das hier gewesen ist.
Wie, in einem Prozess vorzeitiger Alterung, Israel
aus der Phase lebhafter Jugend direkt ins Gefühl
frustrierten verbitterten Alters gesprungen ist.
Wann ist das passiert? Wann haben wir das Gefühl
verloren, es könne jemals ein anderes Leben für uns
geben, ein besseres? Wie können wir immer noch
daneben stehen und wie hypnotisiert zusehen, wie
Wahnsinn und Grobheit, Gewalt und Rassismus die
Herrschaft in unserem Zuhause übernehmen?
Ich frage euch, wie kommt es, dass
ein Volk mit solchen Kräften der Erneuerung und der
Kreativität wie das unsere, ein Volk, das immer
wieder wie ein Phoenix aus der Asche stieg, sich
heute wieder findet, gerade, wenn es solch
überwältigende militärische Macht besitzt, sich in
Schwäche und Hilflosigkeit wieder findet. ? Wie ist
es wieder zum Opfer geworden – diesmal als sein
eigenes Opfer, als Opfer seiner Ängste und
Verzweiflung, seiner eigenen Kurzsichtigkeit? Einer
der schrecklichsten Resultate des letzten Krieges
war das wachsende Gefühl, dass es in Israel keinen
König, keine Führung mehr gibt. Unsere Führung ist
nichts wert– unsere politische und militärische
Führungsspitze ist hohl. Ich spreche jetzt nicht nur
von den offensichtlichen Misserfolgen des Krieges,
von den großen und kleinen Korruptionsskandalen. Ich
spreche von der Tatsache, dass die Leute, die Israel
heute führen, nichts zu bieten haben als
Verängstigung auf der einen Seite und auf der
andern Seite Einschüchterung, die billige
Faszination nackter Macht, das Augenzwinkern von
Betrügereien. Es scheint, die Vision der Leute an
der Spitze geht nicht weiter als bis zur nächsten
Zeitungs-Schlagzeile oder bis zur nächsten Befragung
durch den Generalstaatsanwalt.
Herr Premierminister, Sie können das,
was ich Ihnen zu sagen habe, nicht mit der
Begründung abweisen, ich wäre von Kummer
überwältigt. Natürlich habe ich Kummer. Mich
schmerzt aber noch mehr dieses Land, und was Sie
und Ihre Freunde ihm antun. Glauben Sie mir: Ihr
Erfolg ist mir wichtig, denn unser aller Schicksal
hängt davon ab, aufzustehen und wirklich zu handeln.
Yitzhak Rabin wählte nicht den Weg
des Friedens mit den Palästinensern, weil er sie
oder ihre Führung so gerne mochte. Ich erinnere
mich, auch damals war die Meinung verbreitet, wir
hätten keinen Partner. Rabin entschloss sich zu
handeln, weil er - und das war sehr weise -
erkannte, dass die israelische Gesellschaft mit
einem ungelösten Konflikt nicht länger überleben
kann. Er verstand, lange bevor dies andere taten,
dass das Leben in einer permanenten Atmosphäre von
Gewalt, von Besatzung, Terror, Verängstigung und
Hoffnungslosigkeit einen Preis fordert, den Israel
nicht bezahlen kann. All das gilt auch für heute, in
verschärftem Maße. Bevor wir vom (palästinensischen)
Partner sprechen, den wir haben oder nicht haben,
lasst uns uns selbst betrachten.
Über hundert Jahre leben wir in einem
Konflikt. Wir, die Bürger dieses Konflikts, sind in
den Krieg geboren und zu ihm erzogen, in gewissem
Sinne von ihm programmiert worden. Vielleicht denken
wir deshalb manchmal, dass dieser Wahnsinn, in dem
wir seit hundert Jahren leben, das einzig Wirkliche
ist, dass dies das einzige für uns bestimmte Leben
ist, dass wir nicht die Möglichkeit haben,
vielleicht nicht einmal das Recht, ein anderes,
neues Leben anzustreben: Durch das Schwert leben wir
und sterben wir, auf ewig.
Vielleicht ist das der Grund für die
Gleichgültigkeit, mit der wir uns mit dem
vollkommenen Fehlen eines Friedensprozesses
abfinden, ein Fehlen, das seit Jahren andauert und
immer mehr Opfer fordert. Vielleicht ist das auch
der Grund für die fehlende Reaktion bei den meisten
unter uns auf den schwerwiegenden Anschlag auf die
Demokratie durch die Ernennung Avigdor Libermans zum
stellvertretenden Premierminister, mit der
Unterstützung der Arbeitspartei, durch die Ernennung
dieses nachgewiesenen Brandstifters zum
Feuerwehrhauptkommandanten in diesem Staat!
(anhaltender Beifall)
Vielleicht ist dies einer der Gründe,
warum der Staat Israel in so kurzer Zeit zu solch
grausamer Gleichgültigkeit gegenüber den Schwachen,
den Armen und den Leidenden heruntergekommen ist.
Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von
Hungernden, Alten, Kranken und Behinderten, diese
Gleichgültigkeit gegenüber dem Handel mit Frauen,
die zur Prostitution gezwungen werden, der
Ausbeutung von Fremdarbeitern unter sklavischen
Bedingungen, und gegenüber dem tiefen
institutionalisierten Rassismus gegen die arabische
Minderheit. All dies geschieht hier mit vollkommener
Natürlichkeit, ohne Erschütterung oder Protest. Ich
beginne zu befürchten, sollte morgen der Friede
kommen, sollten wir irgendwann zu einer Art
Normalität zurückfinden, dann haben wir vielleicht
die Gelegenheit zur Genesung verpasst.
Das Unglück, das über meine Familie
und mich gekommen ist, als unser Sohn Uri fiel, gibt
mir keine besonders privilegierte Position in der
öffentlichen Debatte. Aber mir scheint, die
Konfrontation mit Tod und Verlust bringt auch eine
Art Klarheit und ernüchterter Besonnenheit mit
sich, zumindest, was die Unterscheidung zwischen
Wichtigem und Unwichtigem anbelangt, zwischen dem,
was erreicht werden kann und was nicht, zwischen
Realität und Illusion.
Jeder denkende Mensch in Israel und
- ich füge hinzu - auch in Palästina, kennt heute
die Grundzüge einer möglichen Lösung des Konflikts
zwischen den beiden Völkern. Jeder denkende Mensch -
unter uns und unter ihnen - kennt in der Tiefe
seines Herzens den Unterschied zwischen Träumen,
Wünschen, und dem, was am Ende von Verhandlungen
erreichbar ist. Wer den nicht kennt – sei er Jude
oder Araber – ist schon jetzt kein Gesprächspartner
mehr. Solche Leute sind in der hermetisch
geschlossenen Falle des Fanatismus gefangen, deshalb
sind sie keine Partner. Lasst uns für einen Moment
diejenigen betrachten, die unsere Partner sein
sollen. Die Palästinenser haben an ihre Spitze Hamas
gesetzt, die sich weigert, mit uns zu verhandeln,
sich sogar weigert, uns anzuerkennen. Was können wir
in solch einer Situation tun? Sie weiter erwürgen,
ersticken? Weiter hunderte von Palästinensern in
Gaza töten, die überwältigende Mehrheit davon
unschuldige Zivilisten wie wir?
Wenden Sie sich an die Palästinenser,
Herr Olmert, wenden Sie sich an sie über die Köpfe
der Hamas hinweg. Wenden Sie sich an die Moderaten,
an diejenigen, die wie Sie und ich nicht mit der
Hamas und ihrem Weg einverstanden sind. Wenden Sie
sich an das palästinensische Volk, sprechen Sie zu
seiner tiefen Verwundung und Verletzung, erkennen
Sie sein andauerndes Leiden an. Das wird Ihre
Position um nichts schwächen, Israels Position in
künftigen Verhandlungen um nichts verschlechtern. Es
wird nur ein bisschen die Herzen füreinander öffnen,
und diese Öffnung hat eine ungeheure Kraft.
Einfaches menschliches Mitgefühl kann so stark sein
wie eine Naturgewalt, gerade in dieser verfahrenen
Hass erfüllten Situation.
Sehen Sie sie einmal nicht durch das
Zielfernrohr an, oder über eine verschlossene
Straßensperre hinweg. Sie werden dort ein Volk
sehen, das nicht weniger gequält ist als wir.
Natürlich sind auch die Palästinenser an der
Ausweglosigkeit Schuld. Auch sie haben Teil am
Scheitern des Friedensprozesses. Aber betrachten Sie
sie für einen Moment mit einem anderen Blick. Sehen
Sie nicht nur die Extremisten, sehen Sie nicht nur
diejenigen, die mit unseren Extremisten gemeinsame
Interessen hegen. Sehen Sie sich die überwältigende
Mehrheit dieses unglücklichen Volks an, dessen
Schicksal untrennbar mit dem unseren verbunden ist,
ob wir wollen oder nicht.
Gehen Sie zu den Palästinensern, Herr
Olmert, hören Sie auf, Vorwände zu suchen, nicht mit
ihnen zu sprechen. Sie haben den unilateralen "Zusammenlegungs"-Plan
aufgegeben, und das ist gut so. Aber lassen Sie
jetzt nicht einen leeren Raum zurück. Er wird sich
sofort mit Gewalt und Zerstörung füllen.
Sprechen Sie mit ihnen. Machen Sie
ihnen ein Angebot, das die Moderaten unter ihnen
(und davon gibt es mehr, als die Medien uns zeigen)
akzeptieren können. Legen Sie ein solches Angebot
vor, das sie vor die Entscheidung stellt, entweder
anzunehmen, oder Geiseln der fanatischsten Sorte des
Islam zu bleiben. Gehen Sie zu ihnen mit dem
mutigsten und ernsthaftesten Plan, den Israel zu
bieten hat, mit dem Angebot, das jeder Palästinenser
und jeder Israeli, der Augen im Kopf hat, als die
Grenze von Zugeständnis und Ablehnung, der ihren und
der unseren, erkennt. Wenn Sie zögern, wird es nicht
lange dauern, bis wir uns nach der Amateurhaftigkeit
des palästinensischen Terrors zurücksehnen. Wir
werden uns die Haare raufen, schreien und bereuen,
dass wir nicht unsere geistigen Fähigkeiten
angestrengt haben, unsere israelische Kreativität,
um unsere Feinde aus ihrer selbst gemachten Falle zu
ziehen.
Es gibt einen Frieden aus Mangel an
anderer Wahl. Wie es einen Krieg mangels anderer
Wahl gibt, so gibt es den Frieden, weil wir keine
andere Wahl haben, weil uns wirklich nichts anderes
übrig bleibt, nicht uns und nicht ihnen. Und solch
ein Friede als letzte Möglichkeit sollte mit
derselben Kreativität und Entschlossenheit gewagt
werden wie ein Krieg als letzte Möglichkeit. Es gibt
keine andere Wahl. Wer denkt, es gäbe eine, die Zeit
würde zu unseren Gunsten arbeiten, begreift den
Prozess nicht, in dem wir schon sehr tief stecken.
Übrigens, Herr Premierminister,
vielleicht sollten Sie nochmals daran erinnert
werden, wenn irgendeine arabische
Führungspersönlichkeit ein Friedenszeichen sendet –
und sei es auch noch so klein und zögerlich – müssen
Sie darauf eingehen. Sie müssen sofort prüfen, wie
ernst es ihm ist. Sie haben moralisch nicht das
Recht, darauf nicht einzugehen. Sie schulden es
denen, von denen Sie fordern werden, ihr Leben zu
opfern, wenn ein neuer Krieg ausbricht. Wenn also
Präsident Assad sagt, Syrien möchte Frieden, auch
wenn Sie ihm nicht glauben, - und wir sind alle
misstrauisch – müssen sie sich noch am selben Tag
mit ihm treffen. (Beifall, 'Peace Now'-Aktivisten
verteilen Sticker mit: "Assad wartet auf Olmert" und
"Abu Mazen wartet auf Olmert".)
Lassen Sie nicht einen Tag
verstreichen. Als Sie in den letzten Krieg zogen,
haben Sie nicht eine Stunde gewartet. Sie sind
sofort losgestürmt, mit allen Waffen, mit all der
Zerstörungskraft. Warum, wenn es einen
Hoffnungsschimmer von Frieden gibt, warum lehnen Sie
ihn umgehend ab, lassen ihn verschwinden? Was haben
Sie zu verlieren? Ist er Ihnen verdächtig? Gehen Sie
hin und legen ihm Bedingungen vor, die jede Intrige
offen legt. Bieten sie ihm einen Friedensprozess
über mehrere Jahre an, an dessen Ende, wenn er alle
Bedingungen und Einschränkungen anerkennt, er den
Golan zurück- bekommt. (Beifall, aber schwächer als
vorher.) Verpflichten Sie ihn zu einem langen
Dialog. Geben Sie diese Möglichkeit seinem Volk
bekannt, helfen Sie den Moderaten, die es sicher
auch dort gibt. Versuchen Sie, die Realität zu
gestalten, nicht nur ihr Sklave zu sein. Dazu sind
Sie gewählt worden, genau dazu.
Zum Abschluss: Natürlich hängt nicht
alles von uns ab. Es gibt große starke Mächte, die
in der Region und in der Welt agieren, einige davon
– wie Iran, wie der extreme Islam – arbeiten gegen
uns. Und trotzdem hängt so viel davon ab, was wir
tun, was wir sein werden. Die
Meinungsverschiedenheit zwischen Links und Rechts
ist heute nicht wirklich groß. Die entscheidende
Mehrheit in Israel versteht bereits – manche zwar
mit wenig Begeisterung – wie die Grundzüge der
Lösung des Konflikts aussehen werden. Die meisten
von uns verstehen, dass das Land geteilt werden
wird, dass ein palästinensischer Staat entstehen
wird. Warum fahren wir also unter einander fort mit
Gezänk und Streit seit nunmehr 40 Jahren? Warum
fährt unsere politische Führung fort, die Positionen
von Extremisten wiederzugeben, und nicht die der
Mehrheit der Öffentlichkeit? Ist es nicht klar, dass
unsere Lage viel besser ist, wenn wir zur nationalen
Übereinkunft kommen, bevor uns die Umstände dazu
zwingen – Druck von außen, eine neue Intifada, noch
ein Krieg? Wenn wir das tun, werden wir uns Jahre
des Blutvergießens ersparen, des unnötigen
Blutvergießens. Jahre eines schrecklichen Irrtums.
Von hier, wo ich jetzt stehe, bitte
ich, rufe ich jeden auf, der mir zuhört, die jungen
Leute, die aus dem Krieg zurückgekommen sind, die
wissen, dass sie den Preis für den nächsten Krieg
bezahlen müssen, jüdische und arabische Bürger,
Linke und Rechte: Haltet inne für einen Moment und
seht auf den Rand des Abgrunds. Denkt daran, wie nah
wir daran sind, alles zu verlieren, was wir hier
geschaffen haben. Fragt Euch, ob es nicht Zeit ist,
aus dieser Lähmung auszubrechen, und endlich das
Leben einzufordern, das wir zu leben verdienen. "
Sehr langer und lauter Beifall auf
dem ganzen weiten Platz. Ein Gefühl der Offenbarung,
sogar für diejenigen, die in bestimmten Punkten
anderer Meinung sind. Wie wir am nächsten Tag in der
Zeitung lasen, nahmen die Führer der Arbeitspartei –
die auf der Bühne saßen, aber nicht ans Mikrofon
gelassen wurden – nicht an der Begeisterung teil,
sie waren eher geschockt und verärgert. Peretz
verließ die Veranstaltung sofort, nachdem Grossman
geendet hatte.
Für alle anderen waren die Politiker
mit Recht entblößt worden, und die Kraft, die sich
in diesen hunderttausend auf den Platz gedrängten
Menschen manifestierte, die ihrem "Propheten am
Rednerpult" zuhörten, schuf einen seltenen Moment
der Hoffnung.
(Die Medien waren auch beeindruckt;
wieder und wieder wurden Teile von Grossmans Rede
gesendet; Yediot Ahronot druckte die gesamte Rede,
wovon wir in dieser Übersetzung Gebrauch machten.)
(dt. Gudrun Weichenhan-Mer |