Hört mit dem Heulen auf!
Ran Hacohen, antiwar.com, 19.8.05
Persönliche
Gedanken
Freitagabend hatte ich Besuch. Ich kam nach Hause und sah, wie ein Mann
zur hinteren Tür rennt. Später merkte ich: mit meinem Laptop, meiner Uhr
und etwas Bargeld. Ich rief eine Freundin an, aber sie hatte wenig Zeit
für mich: ihre Schwester in Ramat Gan hatte die Freude eines ähnlichen
Besuches: ihr wurde der Wagen geklaut. Ein anderer Freund nahm meinen
Fall als Warnung, doch vergeblich: eine Woche später wurde in seinem
Haus in Hod Hasharon eingebrochen, während die Familie schlief. Mein
Schlosser in Netanya war nicht überrascht: „Seit 30 Jahren bin ich in
diesem Geschäft und noch nie war es so schlimm wie in dieser Woche. Ich
nehme im Augenblick nur Aufträge von Kunden, bei denen eingebrochen
wurde.
Die ganze
israelische Polizei ist in und rund um den Gazastreifen. Außer ein paar
Einheiten, die den friedlichen Anti-Mauer-Demonstranten in Bilin die
Knochen brechen sollen, sind alle israelischen Kräfte im Süden. Die
Herren des Staates kämpfen mit den Herren des Landes, und wir die
gewöhnlichen Israelis müssen mit der wachsenden Kriminalität leben.
Danke, teure Siedler!
Unsere armen
Siedler
Man findet aber kein Wort über die Welle von Verbrechen in den Medien.
Die Medien befinden sich gerade in einer Empathie-Form: wir feiern das
schreckliche Leiden unserer Brüder und Schwestern , den Siedlern.
Und wie sie leiden.
Es bricht einem das Herz. „Die Leute werden auf die Straße geworfen,“
sagte Rabbi Shlomo Aviner von Bet-El, der nach Gaza eingedrungen war, um
seine Jünger anzustacheln. „Unser Leben wurde angehalten und es wird
nicht weitergehen,“ trauert ein Siedler. „Meine Mutter wurde aus ihrer
Wohnung in Polen geholt und in einen Bus gesetzt“, schreit ein anderes
Opfer, „und nun machen sie dasselbe mit mir.“ Das selbe. „ Sie sind
dabei, 20 Synagogen zu zerstören, fast wie in der Kristallnacht“, klagt
ein dritter Idiot. Einige von ihnen sagen es laut: „Es ist ein
Holocaust“. Vielleicht noch schlimmer? „Wenn die Eingeborenen mir dies
getan hätten, dann wäre es besser gewesen; aber Juden ...“ sagte ein
Siedler im TV. Haaretz Journalist Ari Shavit – einmal die Hoffnung des
israelischen Friedenslagers, nun ein widerlicher Rechter – zog einen
Vergleich zwischen einer Siedlerin, die ihren Sohn verloren hat und
ihrem Haus: „So wie sie ihren Sohn verloren hat, wird sie nun ihr Haus
verlieren.“ Einen Sohn verlieren und ein Haus verlieren – ist das denn
alles das selbe? Es scheint, dass je mehr sich Siedler widersetzen und
die Demokratie, Moral, Vernunft, Geschichte, ja sogar den Holocaust
verachten, um so mehr werden sie von den Medien umarmt. Sie werden nicht
als Wahnsinnige dargestellt, sondern als traumatisierte Opfer, deren
verrücktes Benehmen der letzte Beweis für ihr Leiden ist.
Das Bild des „armen
Siedler“ beherrscht die israelischen Medien, nicht weil sie sie
besonders liebten, sondern weil sie gehorsam sind. Ministerpräsident
Sharon wollte, dass die Räumung als großes nationales Trauma dargestellt
wird – als vorbeugendes Mittel gegen jeden weiteren Rückzug – das war
es, was die Medien taten. Das adoptierte Narrativ ist das Narrativ der
Siedler. Die Tränen, die Tag und Nacht von meinem Fernseher tropften,
kamen von den Siedlern und den evakuierenden Militärs, und es sind
dieselben Tränen: beide teilen dieselbe Geschichte, die die Auflösung
der illegalen Siedlungen oder die Entkolonisierung des besetzten
palästinensischen Landes, als eine historische Tragödie, als
„Entwurzlung“ oder „Deportation“ darstellen. Weder die Regierung noch
die Medien bieten eine Alternative an – weder ein Narrativ der
Entkolonisierung als ein Schritt in Richtung Frieden ( das letzte, was
Scharon annehmen würde) noch etwas anderes. Woran sich die Soldaten und
Polizisten hielten, war allein die offizielle Argumentation, dass man
legitimen Befehlen gehorche, die einer demokratisch gefällten
Entscheidung folgten. Auf jeden Fall war ihnen befohlen worden, nicht
mit den Siedlern zu argumentieren, so dass das Narrativ der letzteren
die Bühne beherrschte. Die Siedler „verloren an Grund, gewannen aber im
Fernsehen“ (Ehud Asheri)
Unsere verwöhnten
Siedler
Dieser Darstellung konnten israelische Fernsehkonsumenten nicht
entrinnen, aber es ist bestimmt nicht die einzig Mögliche. Da gab es
eine Menge Widersprüche gegen die Siedler – doch keine erreichte die
Medien, abgesehen von seltenen Erstmeldungen wie die von dem
Polizeioffizier, - der nicht wusste, dass dies aufgenommen wurde - zu
seinen Leuten sagte: „Diese verdammten Siedler!“ (Er wurde daraufhin
natürlich sofort entlassen.).
Warum sollte man
die Siedler hassen? Man schaue sich den Armutsbericht an: es ist der
schlimmste, der je veröffentlicht wurde: Israel steht in der westlichen
Welt mit seiner Kinderarmut an 1. Stelle: 33% der Kinder leben in Armut,
verglichen mit 22% in den USA, 15% in Kanada, 10% in Deutschland und 4%
in Schweden. Mit dieser Hintergrundinformation sollte man sich die
Siedlungen näher ansehen: eine große Villa für jede Familie, ein schöner
Garten, gute Straßen, luxuriöse Gemeindeeinrichtungen. Nicht zu
vergleichen mit den Slums des nahen Sderot, der armen, von
Arbeitslosigkeit geplagten Stadt innerhalb Israels, und nicht einmal mit
den gewöhnlichen Wohnblocks der israelischen Mittelklasse innerhalb der
Grünen Linie. In einem der seltenen Interviews mit einem älteren Mann
von Sderot sagte der dem israelischen TV: wenn nicht alles Geld in die
Siedlungen flösse, könnte seine Stadt eine blühende Stadt sein.
Inzwischen werden Reihen von Slumstraßen, die oft von palästinensischen
selbstgebastelten Bomben getroffen wurden, zum Verkauf angeboten. Anders
als in den Siedlungen werden hier keine großzügigen öffentlichen
Einrichtungen, keine kugelsicheren Fenster und ganz gewiss keine
Entschädigung denen angeboten, die weggehen wollen.
Die Siedler sind
vom Staat in einem Maß verwöhnt worden, dass die wirkliche Frage nicht
die ist, warum sie verärgert sind, sondern warum sie nicht noch mehr
verärgert sind. Die Antwort liegt in der Offenheit des
Siedlungsprojektes: Israelische Familien der unteren Mittelklasse haben
die Möglichkeit, ihre Sachen zu packen, ihren Slum zu verlassen und sich
in umgekehrter Richtung zu „entwurzeln“ in eine hoch-qualifizierte, hoch
subventionierte Wohnung innerhalb einer großzügig unterstützten Gemeinde
in den besetzten Gebieten . Tatsächlich machten dies viele besonders zu
den größeren Siedlungen in der Nähe der Grünen Linie, wie Maale Adumim.
Das ist die Macht der israelischen Kolonisierungspolitik – es ist aber
auch ihre Achillesferse. Es sind diese Siedler, die eher durch
wirtschaftliche Vergünstigungen als durch ultra-nationalistischen
Fanatismus motiviert waren, die nun bereit sind, für sehr großzügige
Entschädigungen nach Israel zurückzukehren. ...
Alternativen
Da gibt es andere Geschichten, andere Perspektiven, die die Medien
wählen könnten. Z.B. Die Geschichte von Dugit. Die kleine Siedlung an
der nördlichen Küste von Gaza wird genau wie alle anderen dargestellt:
„entwurzeln“, Tränen , etc. Keiner scheint sich daran zu erinnern, dass
vor 10 Jahren die Siedler von Dugit vor dem Büro des Ministerpräsidenten
Rabin in Jerusalem demonstrierten und darum baten, ein Stück Küste
innerhalb Israels zu bekommen, um aus Gaza rauszukommen. „Es ist jetzt
die Zeit für Frieden, lass uns raus!“ Die Regierung verweigerte dies.
Ich hätte gern ihre Meinungen gehört. Wie viele von ihnen waren seitdem
von palästinensischem Terror getötet oder verletzt worden? Was denken
sie über das schmutzige Spiel, das mit ihnen gespielt wurde? Kein Wort
darüber in den Medien.
Äußerst selten
hörte man auch die Meinung von Siedlern, wie sie Akiva Eldar zitierte:
„Ab drei Jahre bis 30 leckten wir Honig,“ sagte ein Siedler aus dem
Gazastreifen:
Wir lebten in einem
gemieteten Haus mit Meeresblick, und wir zahlten vielleicht ein Zehntel
der Miete und der Vermögensteuer für ein ähnliches Haus in Herzlia und
da gab es welche, die nicht mal dieses zahlten und Strom und Wasser
umsonst bekamen. Wir haben uns entschieden, keine Entschädigung
anzunehmen.“
Die Medien hätten
sich auch auf solche Stimmen konzentrieren können, die viel anständiger,
viel authentischer sind als diese ständig sich wiederholende Propaganda
der Fanatiker. „Was mich erschüttert hat,“ sagte der gewissenhafte
Siedler, „war der Landraub zwischen Neveh Dekalim und Shirat Hayam. Ich
sah einen Burschen, der wie ein normaler Bürger aussah, wie er eine
Gruppe Araber von ihrem Stückchen Gemüsegarten in Muwasi vertrieb... Ich
war schockiert. Mir wurde klar, dass diese Leute die Ideologie
heranzogen, um die Kontrolle übers Land zu bekommen.“
Ja, die Medien
hätten fragen können, auf wessen Land die Gazasiedlungen standen, von
wem und wie sie in Besitz genommen wurden. Stattdessen wurden die
Palästinenser nur in ihrer fixierten Rolle erwähnt: „Wird nach dem
Rückzug mehr Terror sein?“ Eine einzige andere Stimme ist die von Danny
Rubinstein, der, während alle Medien den heuchlerischen Aufschrei über
die „Entwurzelung“ von 8000 Siedlern ständig wiederholten, uns daran
erinnerte, dass
„Im Laufe des
blutigen Konfliktes der letzten Jahre etwa 30 000 Bewohner des
Gazastreifens aus ihren Häusern vertrieben wurden. Ganze
palästinensische Stadtteile entlang der Philadelphi –Route, am Rand des
Khan-Yunis-Flüchtlingslagers, entlang der Straße nach Netzarim und im
Norden am Rand von Beit Hanun sind vom israelischen Militär in
Schuttberge verwandelt worden.“
Die israelischen
Medien könnten solche Perspektiven bringen – Ansichten von vielen Opfern
der israelischen Kolonisierung, innerhalb und außerhalb (Israels, der
besetzten Gebiete), aus Vergangenheit und Gegenwart. Sie hätten die
TV-Konsumenten daran erinnern können, dass in diesem Fall das Ende auch
ein neuer Anfang ist, da jede Siedlerfamilie im Durchschnitt 250 000$
erhält und somit ein neues Leben an einem freundlicheren Ort beginnen
kann. Dann besteht die Hoffnung, dass der Abzug ein erster Schritt zu
wahrer Entkolonisierung ist. Doch in der Art, wie dieser Abzug bis jetzt
gezeigt wurde, scheint dies nur zu bestätigen, dass sich im Grunde
nichts an Israels kolonialistischer Ideologie geändert hat.
(dt. Ellen Rohlfs)
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