Wähle das Leben!
Von Deb Reich / Abu
Gosch, Israel/Palästina
Die meisten Leute
werden sagen, ich spinne. Ich spinne, das stimmt. Ich werde
trotzdem sagen, was ich zu sagen habe. Wenn du mit deiner
Meinung irgendwo weit weg von der Mitte rotierst, kann das
bedeuten, dass du spinnst. Oder es könnte auch heissen, dass
sich die sogenannte Mitte langsam auf einen tiefen Abgrund hin
bewegt und schliesslich abstürzt, gefolgt von der Mehrheit der
Bevölkerung wie eine Herde dem Untergang geweihter Lemminge. In
diesem Szenario braucht es jemanden, der vom entgegengesetzten
Rand aus die Masse vom Abgrund weg zu sich hinzieht und sie so
vor dem Verderben bewahrt. Das stelle ich mir so vor:
Nach diesem sinnlosen,
verbrecherischen, pornografischen Krieg in Gaza, den Schmuel
Amir zu Recht als "Jagd" bezeichnet hat, und nachdem ein
weiterer landesweiter Wahlgang in Israel in einem Patt geendet
hat, diesmal jedoch mit einem eindeutig faschistischen Unterton,
sind wir einem nachhaltigen Frieden im Nahen Osten nicht näher
gekommen. Jetzt ist eine drastische Kehrtwende angesagt und wir
müssen uns fragen, was wir eigentlich wollen.
Beginnen wir
folgendermassen:
Als israelische Jüdin
sage ich, dass wir - die israelischen Juden (und unsere Freunde
im Ausland) alle willkommen heissen sollen, die gewillt
sind, hier mit uns zusammenzuleben, so lange sie das Land
wirklich lieben und einen vernünftigen Anspruch darauf erheben.
Das wäre nicht der Fall für, sagen wir mal, Touristen aus
Sansibar oder der Antarktis, würde jedoch selbstverständlich auf
die PalästinenserInnen zutreffen, deren Ansprüche auf das Land
zweifellos unbestritten sind (oder sein sollten) und deren tiefe
und unerschütterliche Verbundenheit mit dem Land offensichtlich
ist für jeden, der nicht gerade im Koma liegt.
Ich sage: Wir bringen
jetzt all die Menschen aus Gaza, die so lange gelitten haben,
belagert waren und ausgebombt wurden, heim nach Israel! Sie
vermissen ihr Elternhaus. Sie wollen nach Hause. Heissen wir sie
willkommen! Wir können alle ein wenig zusammenrücken und ihnen
Platz machen. Glaubt mir, Platz ist genug da.
Dayenu! (Genug!) Sie
haben genug gelitten, die Familien der Überlebenden in Gaza. Sie
sind hungrig, durstig, verängstigt, verwundet, traumatisiert
fürs ganze Leben. Sie frieren und sie trauern um ihre Toten.
Genug! Und auch genug des Leides auf der anderen Seite des
Zauns, in Sderot und Umgebung. (Ihr Schicksal ist mit dem der
Menschen in Gaza unentwirrbar verflochten; unser aller Schicksal
ist unentwirrbar verflochten.)
Die Generäle und
Scharfmacher hatten zum x-ten Mal das Sagen und wie üblich
bleiben uns (uns allen) schlussendlich bloss Kriegsverbrechen
und Kummer. Kriegsverbrechen, Kummer, Angst, Hass und
Hoffnungslosigkeit …. Tausende von verletzten und
kriegsversehrten Menschen tragen die Kriegslast ganz direkt und
für immer.
Genug! Wir Israelis
sind jetzt verängstigter als vorher und auch gefährdeter. Es ist
höchste Zeit, die irrsinnige Strategie aufzugeben, Menschen zu
töten, um sie zu zwingen, uns zu lieben oder wenigstens zu
akzeptieren.
Lasst uns, die wir in
Israel so viel besitzen,
unsere Häuser und Städte öffnen. Den besitzlosen Opfern dieses
irrsinnigen Krieges öffnen so, wie wir unsere Häuser und Städte
den Flüchtlingen aus dem Norden Israels geöffnet haben, als die
Katjuscha-Raketen fielen. Unser traditionelles Ethos umfasst
Wohltätigkeit und Grosszügigkeit. Wir wissen was es heisst,
Zuflucht und Beistand zu gewähren: Wir haben über Jahrzehnte
Flüchtlingswelle um Flüchtlingswelle aufgenommen. Erst vor
kurzem schienen uns über eine Million russische Emigranten
unabdingbar für unsere Zukunft. Auch für sie sind wir
zusammengerückt und haben Platz geschafft.
Also, fangen wir's an!
Jede Familie in Israel mit dem Wunsch, hier in Frieden zu leben,
soll ihr Haus einer Familie aus Gaza öffnen, bis neuer Wohnraum
für sie gebaut ist. Alle, die mitmachen, sollen eine hudna
(Waffenstillstand nach islamischem Recht) unter sich
vereinbaren. Jetzt. Heute.
Zuerst musst du
anfangen, deine Nachbarn nicht mehr als "Feinde" zu betrachten.
Stell' sie dir als Familien vor, die von einem Tsunami
heimgesucht wurden wie demjenigen, der vor ein paar Jahren
Indonesien plattgewalzt hat. Tatsächlich ist das, was sie in
Gaza durchgemacht haben, von einer ähnlichen Grössenordnung.
Zack! Plötzlich ist es völlig vernünftig, eine helfende Hand
auszustrecken. Tatsächlich haben Fachleute auf dem Gebiet der
Entwicklungsplanung bereits bis ins Detail geprüft, wo
rückkehrwillige Palästinenser, die an einer gemeinsamen Zukunft
mit bauen wollen, angesiedelt werden könnten. Was es in Israel
braucht, ist nicht mehr Raum, sondern mehr Fantasie um sich
vorstellen, wie viel wir alle zu gewinnen haben. Jetzt ist genau
der Zeitpunkt gekommen, uns dahinter zu machen.
Die Gaza-Katastrophe
könnte der Wendepunkt sein. Familien aus Gaza, die aus Ashdod (Issdod)
stammen, sollen sich mit dortigen Familien zusammentun, solche
aus Lod (Lydd) mit Familien, die heute in der Region Lod/Lydd
leben, egal ob Juden oder Palästinenser. Und so weiter. Und
lasst uns keine Zeit verlieren! Sie, die Menschen aus Gaza,
haben alles verloren und ihre Lage ist trostlos. Wir in Israel
haben unsern moralischen Kompass verloren und wir wollen ihn
wiederfinden. Bingo!
Alle Regierungen der
Welt
sollen, unter der Führung der USA, sofort die Finanzierung von
Kriegsmaterial an Israel einstellen und die Gelder stattdessen
für ein umfassendes Wiederaufbau- und Versöhnungsprogramm
einsetzen.
Lasst uns all die
Zehntausenden von palästinensischen Fachleuten mit israelischer
Staatsbürgerschaft, die hier geboren und aufgewachsen sind, all
die ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen, KrankenpflegerInnen,
ZahnärztInnen, PsychiatrInnen, RechtsanwältInnen, IngenieurInnen,
DesignerInnen, JournalistInnen frohgemut und von ganzem Herzen
endlich mit einbeziehen in diese Anstrengungen, ihre
palästinensischen Verwandten aus dem Exil in Gaza nach Hause zu
bringen. Wir wollen ihre Wunden verbinden und gemeinsam geheilt
und eins werden. Wir alle zusammen. Wir wollen alle gemeinsam
eine wundervolle Gesellschaft aufbauen um unserer Kinder willen,
um der Kinder aller willen. Wir wollen uns eine neue
Nationalhymne ausdenken. Warum nicht? Es ist ein Lied, Leute.
Keine Hymne ist heiliger als das Leben eines einzigen Kindes,
von wem es auch immer abstammt.
Die Familien, die
schon vor 1948 in Gaza lebten, werden dort bleiben und ihre
Häuser und Städte wieder aufbauen wollen. Sicher werden
freiwillige Helfer aus aller Welt herbeiströmen und ihnen beim
Wiederaufbau helfen. Stellt euch vor, wie sie das grösste
Freiluftgefängnis der Welt in den grössten Versöhnungspark
verwandeln mit Einrichtungen für Tourismus, Bildung,
Umweltschutz, kulturelle Attraktionen und Museen, darunter ein
Palästinensisches Nakba-Museum. Stellt euch Gaza vor als
Welthauptstadt der Versöhnung. Leute aus Israel könnten zur
Arbeit nach Gaza pendeln, statt umgekehrt. Prima, nicht?
Dies ist ein Entwurf
für ein gemeinsames Leben.
Er tönt verrückt, nicht wahr? Was ist verrückter: ein zügelloses
Gemetzel oder zügellose Zusammenarbeit? Ströme von Blut oder ein
frei fliessender Strom gemeinsamen Wohlergehens? Zügellose,
massenhafte Zusammenarbeit könnte morgen hier ausbrechen und in
einer oder zwei Wochen, vielleicht in einem oder zwei Monaten,
käme es uns vor, als hätten wir schon immer daran geglaubt.
Auf die humanitäre
Befriedung würde die politische Befriedung folgen,
wahrscheinlich in einer originellen Form von Föderation mit
einer vollständigen, gegenseitigen national-kulturellen
Autonomie, die darauf fusst, dass jede Gruppe der anderen die
gleichen Sozialleistungen zugesteht, die sie für sich selbst in
Anspruch nimmt. Die technische Restrukturierung folgt auf die
Vision, nicht umgekehrt. Es gibt mehrere vernünftige, bereits
fertig ausgearbeitete Pläne für die Teilhabe an der poltischen
Macht. Jeder kann sie lesen: Sie stehen im Internet 1).
Wenn wir einmal angefangen haben, uns eine gemeinsame Zukunft
vorzustellen, können wir sie auch verwirklichen. Und wenn nicht
jetzt, wann denn?
Wir Juden halten es
für vernünftig und herrlich, dass wir es geschafft haben, als
moderne Nation in der antiken Heimat auferstanden zu sein. Und
das nach …nicht zwanzig, nicht zweihundert, sondern nach
zweitausend Jahren Exil! Trotzdem gilt der Gedanke für verrückt,
alle die heimwehkranken palästinensischen Familien, die vor mehr
als sechzig Jahren vertrieben wurden, in ihre Heimat
zurückzuführen. Irgendetwas stimmt da nicht.
Denken wir darüber
nach
und lasst uns die Gewehre ein für alle mal weglegen. Die
Gerichte sollen selbstverständlich über Schuld und
Verantwortlichkeiten urteilen. Aber wir andern, wir haben unsere
Aufgaben. Ja, natürlich gilt es, die Verwundeten zu behandeln
und die Traumatisierten zu heilen… Es gilt, Schwerter zu
Pflugscharen zu schmieden und Panzerteile zu Computern zu
rezyklieren. Todesfabriken sollen Badeanzüge statt Fallschirme
produzieren und Röhren zur Bewässerung von Landwirtschaftsland
statt M16-Gewehre. Keine Zeit mehr für Raketen, wir sind alle
viel zu beschäftigt mit LEBEN. "Phosphor" will ich nur noch bei
Buchstabierwettbewerben hören, an denen alle Kinder teilnehmen
dürfen. Rollen wir den roten Teppich aus für die lange
verschollenen Verwandten und machen und an die Arbeit. Es gibt
hier mächtig viel zu tun. Noch ist es nicht zu spät, nicht
einmal jetzt, aber Du musst den ersten Schritt tun.
Wähle das Leben!
1)
www.partityforpeace.org;
Parallel Soveregnty in:
www.counterpunch.org/reich1030.html;
www.nswas.org/spip.php?article581
Deb
Reich ist Schriftstellerin und Übersetzerin in Israel/Palästina.
debmail@alum.barnard.edu
Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen: Yvonne Lenzlinger,
Zürich/Schweiz.
yvonne.lenzlinger@bluewin.ch
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