Weihnachtsansprache 2005
24.12.2005 - Christmette in der
Geburtskirche zu Bethlehem
+ Michel Sabbah,
Patriarch
Brüder und Schwestern,
Herr President Mahmound Abbas!
1. Wir heißen Sie und Ihre Begleiter
herzlich willkommen in dieser ehrwürdigen Basilika in dieser
Heiligen Nacht. Für Sie, der Sie sich bemühen, Frieden durch
Friedenswege zu erreichen, bitten wir Gott um Mut und Ausdauer auf
diesem schwierigen Weg, den Sie gewählt haben. Wir danken Ihnen für
diese Wahl, die die beste ist, wenn auch sehr schwierig. Wir
wünschen Ihnen Frieden und den Segen des Herrn.
Brüder und Schwestern,
2. Ich wünsche Euch ein heiliges
Weihnachten, voll der Gnade Gottes und des göttlichen Lebens, das
Jesus in Seiner Geburt zu Betlehem uns gebracht hat. Weihnachten
heißt: Gottes Einzug in unsere menschliche Geschichte. Das Word
Gottes wurde Fleisch und wohnte unter uns". Er wurde der Emmanuel,
Gott mit uns. Er ging durch unser Land und wurde für jeden von uns
Begleiter auf all unseren Lebenswegen.
Er ist das Wort Gottes. Er ist die Fülle des Seins,
"durch den alles geworden ist, und nichts geworden ist, außer durch
Ihn" (Joh 1, 3). Er ist das Ebenbild des Unsichtbaren: "Keiner hat
Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters
ruht, Er hat Kunde gebracht. Und von Seiner Fülle haben wir alle
empfangen …" (Joh. 1, 18. 16). Weihnachten ist die jährlich
wiederkehrende Gelegenheit, das Geheimnis der Gegenwart Gottes unter
uns zu vertiefen und unser Einssein mit Ihm den "der einzige Sohn
uns kundgemacht hat', zu festigen. Weihnachten erinnert uns daran,
dass wir unser Leben nicht leben können ohne diese andauernde
Beziehung zur Fülle des Seins und zur Göttlichkeit, die uns in
dieser Heiligen Nacht im demütigen Kind Jesus erscheint.
In der Freude von Weihnachten erinnern wir uns auch,
dass Gott, der unter uns gegenwärtig ist, dieses Land als Seine
Heimat gewählt hat, eine armselige Heimat, in der Er ein
menschliches Leben voller Opfer geführt hat und in dem selben
Menschsein für uns und unsere Erlösung starb. "Er kam in Gottes
Gestalt, und hat Sich selbst erniedrigt, wurde wie ein Sklave, ein
demütiges menschliches Wesen, nahm sogar den Tod auf Sich, den Tod
am Kreuz" (vgl. Phil 2, 6‑7). Er gab Sein Leben hin, für uns und für
alle ohne Unterschied, denn Er kam für die ganze Menschheit. Jedes
menschliche Wesen, aus jeder Rasse, aus jedem Volk und jedem
Bekenntnis, ist wertvoll in Seinen Augen, und Er ist gekommen für
jeden von uns.
3. Die Botschaft an unsere Kirche von
Jerusalem, 40 Jahre nach Beendigung des 2. Vatikanischen Konzils,
ist eine Botschaft neuen geistlichen und religiösen Lebens, gemäß
den Dokumenten des Konzils und den neuen Horizonten, die es den
Gläubigen eröffnet hat; ein neues Leben im Dialog der Religionen,
mit deren Gläubigen, Muslimen und Juden, wir zusammen leben. Aber
zunächst bedeutet es die Erneuerung unseres eigenen Glaubens, um den
Dialog besser führen zu können, die anderen kennen zu lernen und uns
selbst ihnen bekannt zu machen. Ein neues Leben im Dialog, um besser
Anteil nehmen zu können an den Freuden und Sorgen der Menschen
unserer multiformen Gesellschaft. Der wirklich Gläubige horcht
beständig, wie der Psalmist sagt, auf Gottes Wort, in der Heiligen
Schrift und den verschiedenen Begebenheiten des täglichen Lebens
einerseits, und merkt andererseits auf Freud und Leid der Menschen
und Völker.
Die Botschaft lädt und ein zu neuem,
beharrlichen Bemühen, unser Leben auf der fortwährenden Reise vor
Gott wandeln zu lassen und den Willen Gottes erkennen zu lernen,
Seine Vorsehung und Seine Liebe in allem Geschehen unseres Lebens.
Viele von Euch wiederholen auch dieses
Jahr die Frage: Wie können wir Weihnachten feiern und uns freuen mit
der Mauer um uns herum, die uns einsperrt, mit den konfiszierten
Landteilen, unsere Jungen mitten in der Nacht abgeholt und ins
Gefängnis gesteckt, mit den vielen Getöteten in verschiedenen
Städten um uns herum, mit Vergeltungsrufen und ganz zu schweigen von
der allgemeinen Instabilität und Unsicherheit in unserer eigenen
Gesellschaft? Wie können wir bei all dem feiern und jublen?
Eben genau deshalb, wegen der
Wirklichkeit des Todes, brauchen wir die Gnade von Weihnachten,
damit wir sie in die Wirklichkeit des Lebens umsetzen können, um die
Herausforderungen annehmen zu können, um am Leben zu bleiben und
fest zu stehen in unserem Glauben an Gott, der uns liebt und der
gerecht ist, und damit wir den Mut haben, in jedem Menschen das Bild
Gottes zu sehen, wer immer er oder sie sein mag und von heute an zu
beginnen, mit ihm ein neues Leben in unserem Land aufzubauen.
40 Jahre nach dem Konzil sind alle unsere
Kirchen von Jerusalem aufgerufen, die Einheitsbemühungen
fortzusetzen und gemeinsam weiter zu gehen, trotz der ganzen
komplizierten Lage. Für die Katholischen Kirchen ist es eine
Einladung, auf dem in der Synode bereits begonnenen Weg der
Erneuerung voranzuschreiten, im Lichte unseres Allgemeinen
Pastoralplans, der ihre Frucht ist.
4. Die Weihnachtsbotschaft an die
Konfliktsituation, die wir durchleben – zwei Völker und drei
Religionen – ist eine Friedensbotschaft an alle, trotz der
Verschiedenheiten, seien sie national oder religiös; eine Botschaft,
die uns daran erinnert, das jeder Mensch in den Augen Gottes, seines
Schöpfers, wertvoll ist; eine Friedensbotschaft, die uns sagt, dass
das Blut, das schon so lange und so leichtfertig in diesem Land
vergossen worden ist, das Blut jedes Menschen auf beiden Seiten des
Konflikts, nach göttlicher Rache schreit und vom Allerhöchsten
gehört wird.
Wir gedenken der Terrorismusopfer in Jordanien und
aller Opfer des Konflikts hier in unserem Land, all der Opfer dieser
Tage im Libanon und Irak und in der ganzen Welt, besonders aber der
Opfer unserer eigenen Region, deren Frieden abhängig ist vom Frieden
Jerusalems, der Gottesstadt und dem Herzen der Menschheit.
Gott ist zuerst der Gott der Liebe. Er ist der Vater
aller, ohne Unterschied von Rasse und Religion. Er hat uns
geschaffen nach Seinem Bild und Gleichnis. Die Schranken von Rasse,
Religion und Nationalität sind unsere eigene Schöpfung, und mit
diesen Schranken haben wir unsere Fähigkeit zu lieben und zusammen
zu arbeiten selbst begrenzt, ja, stattdessen die Fähigkeit zum Töten
verstärkt.
Die Menschenwürde ist ein fundamentaler Wert, so auch
die Religion, Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität. Aber
Unterdrückung, falsche Konzepte über Religion, Nationalität, Rasse
und Souveränität, verkehren all diese fundamentalen menschlichen
Werte in Faktoren des Todes. Und dazu sind wir nicht geschaffen,
dazu wurden unabhängige und souveräne Staaten nicht gegründet. Alle
Regierungsverantwortlichen dieses Landes haben die Pflicht, für das
Verlangen nach Sicherheit, nicht den Menschen, weder sein Leben noch
seine Würde, zu opfern.
5. Zu Weihnachten, in dieser Heiligen Nacht,
bemerken wir die Bemühungen der Israelis, ihrem Volk Sicherheit
durch verschiedene Militäraktionen zu verschaffen. Wir bemerken auch
den Wunsch der Palästinenser nach einer Beendigung der Besatzung
ihres Landes und nach vollständiger Freiheit.
Weihnachten ruft allen zu: Friede, Sicherheit und
Gerechtigkeit sind möglich!
Geburt und Wachstum einer neuen
israelischen und palästinensischen politischen Realität scheint
vonstatten zu gehen, trotz vielfacher Verzerrungen und
Verzögerungen. Aber sofern unsere Führer ernsten Willen haben,
können sie aus dieser Zeit einen Moment der Gnade machen, mit
vollständigem Stopp von Gewalt und Vergeltung, Befreiung politischer
Gefangener; eine vollständige Beendigung des Alten, Vergangenen, um
den Beginn einer neuen Zukunft zu ermöglichen, ein neues Land wieder
aufzubauen, in dem neue Herzen anstelle von Mauern und
Militäraktionen, Sicherheit für die Israelis gewährleisten und
Freiheit und das Ende der Besatzung für die Palästinenser.
An die Führer der beiden Völker dieses
Heiligen Landes: an Euch palästinensische Führer hier anwesend und
an die israelischen Führer – Weihnachten bedeutet: die Wege in
diesem von Gott geheiligten Land sind Wege des Friedens, gegründet
auf Gerechtigkeit und Gleichheit zwischen den beiden Völkern, wobei
keines über dem anderen steht und keines dem anderen untergeordnet
ist. Beide müssen gleich sein in Würde, Rechten und Pflichten.
„Fürchte dich nicht, Jerusalem,“ so sagt der Prophet,
„Gott ist in deiner Mitte“ (Zeph 3, 17).
Mögen wir den Tag erleben, an dem niemand in
Jerusalem und im Heiligen Land sich fürchtet, niemand verfolgt wird,
niemand auf Kosten eines anderen triumphiert und niemand den anderen
ausschließt: denn Gott ist in der Stadt zu retten und die Würde alle
wieder herzustellen, denn alle Menschen, Palästinenser und Israelis,
wir sind „Seine Geschöpfe und das Werk Seiner Hand“.
6. Brüder und Schwestern hier anwesend und
Ihr alle aus unserer Diözese, in Palästina, Israel, Jordanien und
Zypern, alle Einwohner dieses Heiligen Landes, Juden, Christen,
Moslem und Drusen, Ihr Gefangenen in den Kerkern, Ihr alle, die Ihr
leidet und Opfer der mannigfaltigen Konflikte dieser Region seid,
und Ihr alle in der ganzen Welt, die Ihr mit uns betet, für Euch
alle, Brüder und Schwestern, erbitten wir von Gott überreiche Gnade
und Frieden.
Ein glückliches
und heiliges Weihnachtsfest!
+ Michel Sabbah, Patriarch
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