Liebe FreundInnen,mehrere bewegende Berichte - und
ein Artikel aus der NY Times, dem ich der Weser-Kurierredaktion ans
Herz gelegt habe - zeugen von der schlimmen Situation im
Gazastreifen. Man braucht ja auch nicht viel Phantasie, um sich
vorzustellen, was es bedeutet, nur stundenweise Strom und Wasser zu
haben - dazu noch bei 35 Grad - während Gas zum Kochen und
Brennstoff für Autos und, vielleicht noch wichtiger, für
Notstromaggregate - zur Neige gehen. Weizen und Kichererbsen gibt es
scheinbar noch, ohne Strom oder Brennstoff sind sie nicht genießbar.
Medikamente kommen nicht ins Land, Patienten die es brauchen
nicht in israelische Krankenhäuser. Was wird inzwischen aus
Dialysepatienten geworden sein, oder hat man sie dann doch, gnädig
lebensrettend, durchgelassen? Nachts kein Schlaf wegen der
Düsenflieger, tags traut man sich nicht raus wegen Angriffen. Und
wenn man ohne Strom für den Aufzug im 11. Stock wohnt?
Sarnia Barnia, eine Frau aus Ramallah, wusste nicht warum sie
während des Angriffs auf Gaza völlig unfähig war, irgendetwas zu tun
- nicht einmal zu weinen oder zu schreien - außer ständig an den
Nachrichten zu hängen. Bis ihr klar wurde, dass sie unbewusst die,
schon lange verdrängte, 80 Tage lange Belagerung Beiruts und
Angriffe durch die israelische Armee wieder durchlebte, die sie
damals miterlebt hatte.
Anlass war die Ermordung des israelischen Botschafters in
Großbritannien, der wirkliche Grund, eine Sicherheitszone 40km
innerhalb von Libanon auszudehnen und - wie Scharon auch sagte - ein
Ende der PLO und seines Führers Arafat herbeizuführen. "Ich wünsche,
ich könnte bloß weinen," sagt sie, "Ich kann keine Erinnerungen mehr
ertragen, die Wirklichkeit auch nicht."
Hoda wohnt neben dem Gebäude des Innenministeriums. Zwei Raketen
trafen das leere Gebäude mitten in der Nacht, setzten eine Wohnung
im Haus nebenan in Brand, von Hodas Wohnung aus konnte es gelöscht
werden. Zwei Familien in Schlafkleidung mitten in der Nacht auf der
Straße. Soll das etwa die Hamas bewegen, den israelischen Soldat
auszuhändigen. Beim Lärm des Schallmauerdurchbruchs der Düsenjäger -
immer wieder, mal tags mal nachts - wird Hoda, ("ich, eine Frau
mittleren Alters, Ärztin") hysterisch, so dass ihre kleine Tochter
sie beruhigen muss. (Ich kann das nachvollziehen - mir geht es schon
bei Tieffliegern so, wenn ich meine Ohren nicht rechtzeitig zuhalte
sobald sie sich nähern. Auf das "Sonic boom" ist man allerdings
gänzlich unvorbereitet.) Außerdem gehen Fensterscheiben zu Bruch,
Wellblechdächer sind schon auf Familien kollabiert, die
Krankenhäuser sind voll traumatisierter Kinder.
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Gideon Levy schreibt, es müsse alles geschehen, um Gilad Shalit
frei zu bekommen. "Was wir jetzt in Gaza machen hat nichts mit
seiner Befreiung zu tun. Es ist ein großangelegter Racheakt, wie sie
die IDF und Shin Bet schon lange ausüben wollten, hauptsächlich
motiviert durch tiefe Frustration der Armeekommandanten wegen ihrer
Machtlosigkeit gegen die Qassams und der wagemutige Angriff der
Palästinenser". (Es mag in diesem Kontext bemerkenswert sein, dass
im Englischen das Wort "Machtlosigkeit" "impotence" heißt. Ich weiß
nicht, wie es auf Hebräisch ist.) "Die einzige weise und verhaltene
Stimme, die bisher gehört wurde, war die des Vaters des Soldaten,
Noam Shalit. Dieser edle Mensch rief in seiner offensichtlich
schwierigsten Stunde nicht nach Härte und mehr Schaden am Leben von
Soldaten und unschuldigen PalästinenserInnen... Es ist eine Schande,
dass keiner ausgerechnet ihm zuhört... Was gäbe es für einen
Aufschrei, wenn die Palästinenser die halben Mitglieder der
israelischen Regierung geschnappt hätten?"
Und schließlich fragt Levy noch "hat irgendjemand überlegt, was
passiert wäre, wenn es syrischen Flugzeugen gelungen wäre, eines der
israelischen Flugzeuge abzuschießen, die unverschämt den
Präsidentenpalast mit Lärm alarmierten? Hätten wir Syrien den Krieg
erklärt? Einen weiteren, "legitimen Krieg"?.. Und wenn die Hamas
Regierung fällt, wie es Washington will, was passiert am Tag
danach?"
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Unter dem Titel "Im Dunkeln verhungern" schreibt Virginia Tilley,
Politikprofessorin zur Zeit in Südafrika: "Mitten im Schlachtfeld
können Palästinenser vielleicht eine bittere Pille der Entschädigung
erkennen: die boshaften Bemühungen der Fatah, die Kontrolle über die
nationale palästinensische Politik wieder zu erlangen und ihre
Rivalität mit der Hamas sind nun obsolet geworden. Nicht einmal die
internationale Gemeinschaft kann den Schein aufrecht erhalten, dass
die PA überhaupt regierungsfähig ist.... Vielleicht hat die
palästinensischen Einheit wieder eine Chance." Zugleich erinnert
sie, dass in Gaza Strom gebraucht wird, um Wasser zu pumpen -
Wasser, das bereits durch See- und Abwasser verunreinigt ist
(hauptsächlich, weil zu viel hochgepumpt wurde, teilweise auch für
die Landwirtschaft der Siedlungen) und elektrisch aufbereitet werden
muss. Das bedeutet Cholera... Und schließlich können die Menschen
nicht weg. Sie können nicht mal zu ihren Verwandten in der Westbank,
nach Jordanien oder Ägypten.. Der wunderliche Maßstab dieser
humanitären Situation wird nur übertroffen durch den betäubenden
Rinnsal der internationalen Reaktion."
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Natürlich gehen währenddessen die Quälereien in der Westbank
weiter. So schickt der Stadtrat der Stadt Beit Jala (neben
Bethlehem) einen dringenden Appell an FreundInnen und
Friedensliebende überall in der Welt, ihre Regierungen dazu zu
drängen, sie möchten Druck auf Israel ausüben, die letzten
Olivenhaine der Stadt nicht zu zerstören, um den Bau der Mauer
voranzutreiben. Wenn Tod, Zerstörung, Hunger und traumatisierte
Kinder unserer Regierungen nicht bewegen, welchen Chance haben wir?
Mit ziemlich verzweifelten Grüßen,
Anka