EIN WICHTIGER TEXT -
DESWEGEN IN GANZER LÄNGE
Die
deutsche Kolonie in Haifa, Negativ (Glas, Trockenplatte), 10 x
12 Zoll, Matson Photograph Collection, Library of Congress,
1898-1914.
Palästina, Antisemitismus und der "friedliche
Kreuzzug" Deutschlands
Emily Dische-Becker, Sami Khatib, Jumana Manna
Ein System der
Überwachung, Zensur und Ausgrenzung ist in deutschen Kultur- und
Bildungseinrichtungen zur Selbstverständlichkeit geworden. Im
Mai 2019 verabschiedete der Bundestag eine Resolution, die die
Boycott, Divest, Sanctions (BDS)-Bewegung als antisemitisch
einstuft und Organisationen, die BDS nahestehen, den Zugang zu
öffentlichen Geldern und öffentlichen Räumen verwehrt. Eine sich
ausbreitende Kultur der Angst und Inquisition ist unweigerlich
gefolgt. Die Situation hat einen solchen Siedepunkt erreicht,
dass erst kürzlich große Kulturinstitutionen in Deutschland
einen beispiellosen gemeinsamen offenen Brief veröffentlicht
haben, in dem sie die Zensur und Schikanen, die durch die
Resolution hervorgerufen werden, anprangern. Aber das
unmittelbarste Ergebnis dieses politischen Klimas ist das
anhaltende Schweigen der Palästinenser in Deutschland - der
größten palästinensischen Diaspora in Europa. Dieses Gespräch
zwischen der Autorin Emily Dische-Becker, dem Wissenschaftler
Sami Khatib und der Künstlerin Jumana Manna reflektiert die
spezifische politische, künstlerische und kuratorische Situation
in Deutschland und die Realitäten vor Ort, mit denen Künstler,
Kuratoren und Wissenschaftler, die sich mit Israel und Palästina
beschäftigen, konfrontiert sind.
Emily Dische-Becker (EDB): Die unverbindliche Resolution des
Bundestages erklärt die Methoden der BDS-Bewegung als
antisemitisch und gilt für Organisationen. Für Einzelpersonen
gilt die Resolution nicht, aber sie wird übereifrig
interpretiert. Der Vorwurf des Antisemitismus ist eine größere
Abschreckung als ein tatsächliches Gesetz es wäre. Einerseits
braucht man nicht wirklich ein Gesetz gegen Einzelpersonen, da
eine Resolution, die vage formuliert ist, zu sehr auf
Einzelpersonen abzielt, und andererseits wäre ein tatsächliches
Gesetz wahrscheinlich verfassungswidrig, da es eindeutig gegen
die Meinungsfreiheit verstößt.
In Deutschland geht es nun darum, ob Menschen, die sich in der
Vergangenheit lautstark kritisch gegenüber Israels Handlungen
geäußert haben, indem sie zum Beispiel eine Petition während des
Gaza-Krieges unterschrieben haben, die Erlaubnis erhalten
sollen, in öffentlich finanzierten Räumen aufzutreten oder
Arbeiten zu zeigen. An diesem Punkt geht es nicht um den
eigentlichen Inhalt der Arbeit, sondern um die persönliche
politische Position. Es ist ziemlich willkürlich, ob sie
tatsächlich in Schwierigkeiten geraten werden; man ist nie
sicher, ob es passieren wird. Die Institutionen, die ihre
Arbeiten zeigen, können von zufälligen Leuten - "besorgten
Bürgern" - angerufen werden, die eine E-Mail an das
Kulturministerium oder eine der öffentlichen Einrichtungen, die
kulturelle Ausstellungen oder Forschung in Deutschland
finanzieren, schicken und sie auffordern, die politischen
Ansichten der Künstler oder Akademiker zu untersuchen,
insbesondere in Bezug auf Israel.
Normalerweise geschehen diese Beschwerden auf koordinierte
Weise, so dass es nicht eine Person ist, sondern zahlreiche
Leute anrufen oder schreiben. Es kann auf Twitter, in der
lokalen Presse oder auf Randblogs der Antideutschen öffentlicher
werden. Es könnte auch parlamentarische Anfragen von der
rechtsextremen Alternative für Deutschland (AFD) oder der
neoliberalen Freien Demokratischen Partei (FDP) geben, die
Dutzende, wenn nicht Hunderte von Anfragen zur Finanzierung von
Kulturprojekten verfasst haben, die möglicherweise an
BDS-Unterstützer gehen. Sobald es eine echte Flut von Anfragen
gibt, könnte ein Vortrag oder eine Ausstellung abgesagt werden.
Oder das Ministerium könnte sagen: "Wir möchten, dass unser Logo
von der Website des Veranstaltungsortes entfernt wird", oder
"Bitte machen Sie deutlich, dass dies nicht vom Staat finanziert
wird." Darauf müssen die Institutionen grundsätzlich reagieren.
Und sie haben eine Vielzahl von Antworten, wie wir in den
letzten Jahren gesehen haben. Aber die meiste Zeit beugen sie
sich einfach dem Druck. Das ist die Situation im Großen und
Ganzen.
Das Letzte, was die Deutschen wollen, ist, dass man ihnen
vorwirft, sie würden den Antisemitismus "relativieren". Das ist
der oft zu hörende Vorwurf, wenn Antisemitismus in irgendeine
kontextuelle Beziehung zu anderen Macht- und
Unterdrückungssystemen gesetzt wird. Diese Abstraktionsgrade
sind ziemlich genau so schlimm wie der ursprüngliche Vorwurf:
Antisemitisch zu sein ist also ein ebenso schwerwiegender
Vorwurf wie den Antisemitismus zu "relativieren". Mit dem
Begriff Antisemitismus in Verbindung gebracht zu werden - der
Vorwurf, die "Relativierung" von Antisemitismus zu unterstützen
oder die "Relativierung" von Antisemitismus zu entschuldigen -
ist für die meisten Menschen abschreckend genug, um sich nicht
engagieren zu wollen. Sie haben auch lokale Beschlüsse in den
Stadträten, die strenger sind als die BDS-Resolution. Zum
Beispiel hat die Stadt Berlin noch vor der parlamentarischen
BDS-Resolution eine Resolution verabschiedet, die sich auf
Einzelpersonen bezieht. So wird Einzelpersonen, die BDS
unterstützen, der Zugang zum öffentlichen Raum verwehrt, was
bedeutet, dass jedem Künstler, der jemals eine Petition mit
Bezug zu Palästina unterzeichnet hat, der Zugang zum
öffentlichen Raum verwehrt werden könnte. Ich meine, wer weiß
schon, was das bedeutet.
Jumana Manna (JM): Und das schließt die Finanzierung ein.
EDB: Ja, das schließt die Finanzierung ein. Also, in
verschiedenen Städten wurden diese Entscheidungen vor Gericht
angefochten, wo Einzelpersonen oder Organisationen vom Zugang zu
Räumen oder der Teilnahme an Veranstaltungen ausgeschlossen
wurden, weil sie die BDS-Bewegung unterstützen - oder angeblich
unterstützen - oder ihr nahe stehen. Wenn diese Einzelpersonen
geklagt haben, was auf Stadtebene drei- bis viermal geschehen
ist, und Ende November gab es ein Gerichtsurteil in München,
wurden diese Entscheidungen für verfassungswidrig und eine
Verletzung der Meinungsfreiheit und des Rechts auf freie
Meinungsäußerung erklärt.
Sami Khatib (SK): Alle diese Fälle wurden letztlich in
höheren Instanzen gewonnen. Aber wir sollten das Feld vielleicht
ein wenig erweitern. In Deutschland wird es als Aufgabe des
Staates angesehen, die Freiheit von Bildung, Kultur und Kunst zu
ermöglichen und zu sichern. Das heißt, es werden keine Inhalte
vorgeschrieben, aber Sie haben auf Gemeinde-, Stadt-, Kreis-,
Landes- und Bundesebene Kultureinrichtungen, Kunstinstitutionen,
Stiftungen und vor allem das gesamte Hochschulsystem, das von
der staatlichen Finanzierung abhängig ist. Öffentliche
Hochschulen sind hier sehr wichtig, weil es in Deutschland
praktisch keine privaten Hochschulen gibt. Auch die meisten
Kunstakademien werden vom Staat finanziert. Wir müssen also
darüber sprechen, wie die Arbeitsdefinition der International
Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) für Antisemitismus,
einschließlich des so genannten israelspezifischen
Antisemitismus, auf Universitäten angewendet wurde. Sie wurde
von der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), dem Zusammenschluss
der öffentlichen und staatlich anerkannten Hochschulen in
Deutschland, übernommen und die Hochschulen werden aufgefordert,
sie zu verwenden. Das ist ein interessanter Schritt, denn in
einer Pressemitteilung aus demselben Jahr (2019) warnte derselbe
Verband vor den Gefahren für die akademische Freiheit in einem
Zeitalter "radikal politisierter und polarisierter Meinungen"
und mahnte die "Notwendigkeit, sich den Angriffen auf die
akademische Freiheit zu stellen" und "den zerstörerischen
äußeren Kräften und dem inneren Druck zu widerstehen, die diese
Mission bedrohen." Doch gleichzeitig verabschiedete dieser
Verband die rechtlich nicht bindende Bundestagsresolution zu
Antisemitismus und gegen BDS.
Um also zu wiederholen, was Emily gesagt hat: Je mehr staatliche
Mittel es gibt, um den Zugang zum öffentlichen Raum zu
erleichtern, desto mehr können sie dieses Geld als indirekten
Weg nutzen, um auszuschließen und zu zensieren. Das wird gemacht
- auch wenn ich zum Beispiel zum Bundesgerichtshof, zum höchsten
deutschen Gericht, zum Verfassungsgericht oder sogar danach zum
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen kann und mein
Recht bekomme, nach vielen Jahren. Es gibt also eindeutig eine
Grauzone, in der die tatsächliche Anwendung der gesetzlich
garantierten Wissenschaftsfreiheit mit den wolkigen
Formulierungen und politischen Vorstellungen des
Bundestagsbeschlusses in Konflikt steht. Das hat zu einer
Situation geführt, in der man sich gar nicht erst auf die
Debatte einlassen will und sich einfach dem autoritären
Verhalten des Staates unterwirft. In Deutschland hat ein solches
Verhalten der vorauseilenden Unterwerfung unter die Staatsgewalt
eine lange Tradition.
Wir müssen hier betonen, dass das Ausmaß der staatlichen
Finanzierung in Deutschland nicht bedeutet, dass es einen
zentralisierten Staat gibt, wie in Frankreich, sondern einen
vielschichtigen Bundesstaat, dessen Ebenen eigentlich rechtlich
frei sind, innerhalb der verfassungsmäßig garantierten Grenzen
zu entscheiden, was sie wollen. Aber die lokalen Behörden und
Entscheidungsträger folgen freiwillig einer politischen Linie,
die in etwa die vier Parteien repräsentiert, die im Bundestag
tatsächlich für den Beschluss gestimmt haben.
Es reicht sogar bis auf die unterste Ebene, wo der Signifikant
"Palästina" selbst zu einer Mikroaggression gegen irgendeine
imaginäre jüdische Person werden könnte. Was ist diese deutsche
Fantasie? Wer sind diese Subjekte, die sie zu schützen
phantasieren? Offensichtlich geht es um Deutschland und seine
narzisstische Selbstbesessenheit, "mit seiner Vergangenheit
zurechtzukommen". Man kann diese Phantasie nicht auf der Ebene
der Rationalität oder der empirischen Realität herausfordern.
Und natürlich ist diese Art von deutscher Identitätspolitik
zutiefst antisemitisch, oder die Kehrseite davon, philosemitisch
- sie ist Ausdruck von Ressentiments. Aber jenseits der
Phantasie hat sie wirklich einen giftigen öffentlichen Diskurs
geschaffen.
JM: Obwohl der Antrag neu ist, ist diese Geschichte der
Unterdrückung des Diskurses über Palästina alt, besonders in
Westdeutschland. In Ostdeutschland, der Deutschen Demokratischen
Republik (DDR), gibt es eine interessante Geschichte von
Solidaritätsbewegungen, die mit der sogenannten
Wiedervereinigung 1989 zu Ende ging und damit sind diese
Bewegungen heute in Deutschland weitgehend vergessen. Aber
Westdeutschland hat eine lange Geschichte des Schweigens, der
Beschämung und der Schuldzuweisung an Palästinenser sowohl
innerhalb als auch außerhalb der deutschen Grenzen. Wenn es
vorkommt, dass ein Palästinenser eingeladen wird, um über das
Thema Palästina zu sprechen, dann ist es sehr üblich, dass die
Institution darum bittet, dass ein jüdischer Israeli dabei ist,
der neben ihnen spricht, um eine falsche Vorstellung von
Ausgewogenheit oder Neutralität zu vermitteln. Umgekehrt ist
dies sicherlich nicht der Fall. Niemals würde ein jüdischer
Israeli durch eine palästinensische Stimme ausgeglichen werden
müssen.
EDB: In den letzten Jahren hat man das Gefühl, dass
palästinensische Stimmen noch marginaler geworden sind.
Gleichzeitig haben die Stimmen von Minderheiten zugenommen, aber
die Palästinenser werden dabei meist außen vor gelassen. In den
letzten 15 Jahren gab es zum Beispiel einen Anstieg von
Deutsch-Türken, die sichtbarer in Führungspositionen in
kulturellen Institutionen, im Parlament, in der Politik
vertreten sind. Es gibt generell ein viel größeres Bewusstsein,
gerade in der liberalen Kulturszene, dass Menschen, die einen
sogenannten "Migrationshintergrund" haben, für sich selbst
sprechen sollten. Natürlich ist das immer noch ziemlich
tokenistisch. Aber selbst das gilt nicht für Palästinenser; ihre
Teilhabe am öffentlichen Leben bleibt auf dem "Vor-Token"-Stadium.
Sawsan Chebli, eine Berliner Lokalpolitikerin der
Sozialdemokratischen Partei, ist eine der wenigen
deutsch-palästinensischen Persönlichkeiten des öffentlichen
Lebens. Sie muss etwa einmal im Monat nach Auschwitz - im
übertragenen Sinne, meine ich natürlich. Sie fährt ständig
Tandem mit Rabbinern als Teil einer interreligiösen Initiative.
Aber das spielt keine Rolle. Sie wird immer noch wie absoluter
Abschaum behandelt. Ich finde sie politisch schwer zu ertragen,
aber man kann kaum umhin, es als einen Skandal zu empfinden, wie
sie behandelt wird. Es ist frauenfeindlich und rassistisch. Und
es gibt nichts, was sie tun kann, um vollständig anzukommen.
Egal wie sehr sie ihr Palästinensischsein verleugnet, es ist nie
genug. Die andere Person ist Ahmad Mansour, der Experte für die
Radikalisierung von Jugendlichen ist. Für ihn könnte jede Art
von repressiver antimuslimischer Diskriminierung irgendwo in
Europa nicht willkommener sein. Er ist wie der erste Typ, der
Sebastian Kurz in Österreich dazu gratulierte, dass er den
"politischen Islam" zu einer eigenen Strafkategorie gemacht hat.
Sawsan Chebli, Berliner Lokalpolitikerin der
Sozialdemokratischen Partei, ist eine der wenigen
deutsch-palästinensischen Persönlichkeiten des öffentlichen
Lebens. Sie fährt ständig mit Rabbinern Tandem, als Teil einer
interreligiösen Initiative.
Damit will ich sagen, dass die Palästinenser wohl die am meisten
verleumdete Minderheit in Deutschland sind. Ich kann nicht für
sie sprechen, aber was ich im Laufe der Jahre von
palästinensischen Bekannten und Freunden gehört habe, besonders
wenn es einen Krieg mit Israel gibt, ist, dass sie einfach das
ständige Ziel deutscher Vernichtungsphantasien sind. Es ist fast
so, als ob die Deutschen die Palästinenser durch eine Linse
betrachten, die besagt: "Nun, wenn wir Palästinenser wären,
wären wir definitiv völkermordende Antisemiten." Und so werden
sie aus jedem Gespräch verdrängt. Es gibt keine Notwendigkeit,
eine palästinensische Stimme zu zitieren oder eine
palästinensische Perspektive in einem Zeitungsartikel oder sonst
etwas zu haben. Es gibt Veranstaltungen zu BDS,
Podiumsdiskussionen und was nicht alles, aber es gibt nie einen
einzigen Palästinenser.
SK: Man sollte hinzufügen, dass das nicht zufällig ist. In
Deutschland kann man von einer Art transzendentalem
antipalästinensischen Sentiment sprechen. Es ist die Bedingung
der Möglichkeit, unter der man in den öffentlichen Diskurs
eintreten und an ihm teilnehmen kann. Das bedeutet auch, dass
von Menschen mit nicht-deutschem Hintergrund erwartet wird, dass
sie dieses spezifisch deutsche antipalästinensische Sentiment
lernen und sich daran gewöhnen. Wenn Sie postmigrantische
Stimmen haben, sagen wir mit türkischem oder kurdischem
Hintergrund, müssen sie sich an das allgemeine rechte Narrativ
gewöhnen, das die Konstruktion palästinensischer Identität unter
den Prämissen des israelbezogenen Antisemitismus einrahmt. Das
bedeutet also, dass der Signifikant "Palästina" selbst bereits
antisemitisch ist - solange nicht das Gegenteil bewiesen oder
"ausgeglichen" wird. Er ist zumindest zu einem zweifelhaften
Signifikanten geworden, der weiter untersucht werden muss.
Dieses misstrauische Hinterfragen und die ängstliche Distanz
gegenüber dem Thema Palästina ist einer der Einstiegspunkte in
den deutschen Diskurs. So ist es nicht verwunderlich, dass,
selbst wenn man einige Minderheitenstimmen im öffentlichen
Diskurs hat, das Gespräch über Palästina so einsprachig, so
deutsch klingt. Es ist strukturell. Und natürlich weiß das jeder
Palästinenser oder Deutsch-Palästinenser, der in Deutschland
lebt, mehr oder weniger, und hat gelernt, so zu sprechen,
zumindest in der Öffentlichkeit, vor allem, wenn er aus der
Position eines öffentlichen Amtes spricht.
Das ist in der BRD seit dem Terroranschlag bei der Olympiade
1972 in München der Fall, nach dem die BRD verdeckt mit dem
jordanischen Geheimdienst kollaborierte und einige Palästinenser
mit jordanischer Staatsbürgerschaft abschieben ließ. Dieser
erste Fall von explizit antipalästinensischen
"sicherheitsrelevanten" Maßnahmen des westdeutschen Staates
führte meist zu Abschiebungen und dem Entzug von
Aufenthaltsgenehmigungen. Seitdem ist eine zunehmende staatliche
Feindseligkeit gegenüber der palästinensischen Sache zu
verzeichnen. In Westdeutschland hatte es immer einige Politiker
im Bundestag gegeben, die aus verschiedenen Gründen
"pro-arabisch" im Sinne einer Freundschaft zu westlich
verbündeten arabischen Regimen waren. Dies ist immer seltener
der Fall. Wie Jumana bereits erwähnte, war das Bild in
Ostdeutschland, mit der DDR, anders. Die DDR verstand sich als
Verbündeter der palästinensischen Sache - oder zumindest der
Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), einer wichtigen
marxistisch-leninistischen Gruppe. Aber viele Menschen, die aus
der DDR kamen und Kritiker des autoritären, poststalinistischen
DDR-Regimes waren, hatten nach 1990 das Gefühl, dass sie es in
der westdeutschen Gesellschaft nur schaffen konnten, wenn sie
sich besonders anstrengten, ihre Vergangenheit richtig
aufzuarbeiten, wie es die Westdeutschen angeblich taten. Sie
lernten, wie sie sich mit diesem antipalästinensischen Narrativ
im westdeutschen öffentlichen Diskurs durchsetzen konnten, um
sich so ihr Ticket zu verdienen, in der deutschen Öffentlichkeit
als respektierte Stimme zu sprechen. Und nach 1990 exportierte
das wiedervereinigte Deutschland sein vermeintlich ausgewogenes
und selbstkritisches Gedenknarrativ.
JM: Und das ist ein Teil der Siegesgeschichte des Westens
gegen den Osten.
EDB: Kultur und Wissenschaft sind die letzte Grenze. Sie
sind so international, dass es schwer ist, sie von
internationalen Diskursen abzuschotten, die den deutschen
Kontext außer Acht lassen. So ist die Kultur zu einer Art
spezifischem Schlachtfeld für dieses Thema geworden. Ich
verstehe die Texte zur Kunst-Ausgabe zum Thema "Antisemitismus"
als einen Eingriff in diese letzte Grenze - die internationale
Kunst- und Kulturszene -, die das deutsche Narrativ noch nicht
ganz besetzt und provinzialisiert hat.
SK: Für den wirklichen politischen Hintergrund muss man
in der deutschen Geschichte zurückgehen, in den Holocaust und
das Nachkriegsdeutschland. Man muss alle Etappen der Aufnahme
diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und Israel durchlaufen. Und natürlich Israels
Änderungen in der Politik. Und dann der allgemeine
menschenrechtsbasierte Diskurs nach 1990. Das sind viele
Schichten, die zusammenkommen. Im Ergebnis kann man sagen, dass
es Deutschland zumindest ideologisch gelungen ist, sich selbst
und der Welt zu beweisen, dass es ein Hüter friedlicher
internationaler Beziehungen ist, und dadurch eine moralische
Überlegenheit zu erlangen, weil es seine eigene Vergangenheit
aufgearbeitet hat. Und natürlich können wir den Prozess der
Abwälzung der kollektiven Schuld des Antisemitismus auf jemand
anderen beobachten. Heute sind Palästinenser und
Palästina-Solidaritätsbewegungen das perfekte Subjekt des
Antisemitismus. Deutschland hat gesühnt, also ist es aus
deutscher und israelischer Mainstream-Perspektive konsequent,
jemand anderem die Schuld zu geben. Auf diese Weise ist Israels
"Sicherheit" und das Bekenntnis zur nicht existierenden
"Zweistaatenlösung" - das heißt in Wirklichkeit das Bekenntnis
zur Nichtexistenz kollektiver palästinensischer Rechte und die
Leugnung der Existenz der Palästinenser als Menschen und
politische Akteure - zur deutschen Staatsraison geworden, wie
Bundeskanzlerin Merkel es ausdrückte.
Das ist im Einklang mit der deutschen Geschichte. Es
funktioniert innerhalb der Logik, wie der westdeutsche Staat
nach 1945 Scham und historische Schuld in eine moralische Höhe
der politischen Verantwortung verwandelte. Man kann diese Logik
natürlich kritisieren und sie von Anfang an für fehlerhaft
halten, aber das ist Realpolitik und so hat es Deutschland bis
zu seiner führenden Position in der Europäischen Union (EU) als
Wirtschaftsmacht geschafft. Auch seine Marktposition in der Welt
profitiert davon, einen guten Namen zu haben. Den Preis für
diese gewaltige politisch-ideologische Verschiebung der
historischen Schuld mussten allerdings einige Nicht-Deutsche
zahlen. Und so wurden die Palästinenser zu Terroristen oder
zumindest zu ontologischen Antisemiten per Existenz. Es ist so
verdreht, wie es klingt: Die deutsche Sühne bedeutet letztlich
die palästinensische Nichtexistenz. Wer sich auf die
palästinensische Identität beruft, muss bis zum Beweis des
Gegenteils auf Antisemtismus überprüft werden. Und wenn das
Gegenteil bewiesen ist, gibt es als "ausgeglichene" und
"selbstkritische" Palästinenser natürlich Karriereoptionen als
einheimischer Informant oder multikultureller Deutscher.
JM: Deutschlands giftige Besessenheit mit oder besser gesagt
Verleugnung von Palästinensern ist auch älter als das zwanzigste
Jahrhundert. Sami wies auf die Geschichte und den ideologischen
Kontext von Deutschlands schuldgetriebener Leidenschaft hin,
Israel als "jüdischen Staat" zu schützen, besonders nach 1990.
Aber wenn man viel weiter zurückblickt, waren Deutschland und
Preußen schon vor der Gründung des Staates Israel an der Region
interessiert. Wie viele europäische Nationen, vor allem
Großbritannien und Frankreich, teilte Deutschland den
missionarischen Impuls in Richtung Palästina ab dem frühen
19.Jahrhundert. Und sie waren sehr aktiv bei der Eröffnung von
Schulen, Krankenhäusern, Kirchen und später auch bei
archäologischen Ausgrabungen, Industrie und Handel. Die Templer
- eine religiöse protestantische Sekte, die sich in
Süddeutschland bildete - errichteten auch deutsche Stadtteile in
Jerusalem und Haifa. Deutschland war eine weitere
protestantische Mission, Teil des "friedlichen Kreuzzuges" in
die Region. Deutschlands Rolle in Israel/Palästina und in der
Region insgesamt kann nicht von dem älteren religiösen und
wirtschaftlichen Engagement der späten osmanischen Periode
losgelöst werden.
EDB: Ich glaube allerdings, dass es etwas Spezifisches gibt,
das in den letzten Jahren passiert ist. Es gibt einen
allgemeinen Revisionismus, was die deutsche Vergangenheit
angeht, und dieser Revisionismus hat es möglich gemacht, die
Schuld zu verschieben. Auch für Liberale und Linke, die in die
deutsche Erinnerungskultur und solche Dinge investiert sind,
erlaubt dieser Revisionismus, den Fokus des Antisemitismus von
den Rechtsextremen auf die Muslime, auf die Palästinenser und
nun auf die Linken, auf die Islamo-Linken (oder
Juden-Bolschewiken!) oder was auch immer zu verschieben. Der
Aufstieg der Rechtsextremen in Deutschland und ein allgemeiner
Anstieg des rechtsextremen, einwanderungsfeindlichen Rassismus
in den letzten Jahren ist definitiv der Hintergrund dafür. Und
ich glaube nicht, dass man diese beiden Dinge voneinander
trennen kann. Sie sind sehr stark miteinander verbunden. Es ist
in vielerlei Hinsicht akzeptabel geworden, sehr rassistisch zu
sein, solange man pro-Israel ist, und es ist inakzeptabel
geworden, Israel zu kritisieren, selbst wenn man Jude ist.
JM: Bestimmte Diskussionen, die anderswo auf der Welt als
Fakten vor Ort geführt werden, sind in Deutschland tabu. Schon
der Begriff "Zionismus" kann die Leute offenbar verunsichern.
Ich meine, ich erinnere mich, dass ich "Zionismus" in einer
Pressemitteilung hatte und die Leiterin der Medienabteilung mich
bat, es zu entfernen, weil sie dachte, es sei ein
problematisches Wort. Und ich sagte: "Aber Zionismus ist eine
historische Bewegung, keine Meinung." Es ist wirklich intensiv,
wie viel Paranoia es über "Zionismus", "Besatzung", sogar den
Begriff "Westbank" gibt. Ganz zu schweigen von "Apartheid" oder
"Siedlerkolonialismus". Es ist hier also wirklich extremer als
in anderen Ländern.
Zensur geschieht oft nicht direkt, sondern durch Ausschluss. Das
heißt, Nichteinladung oder Nichteinbeziehung. Ich glaube, das
ist die prominenteste Form: eine Nicht-Befassung mit diesen
Themen, indem man es vermeidet, Palästinenser oder Araber und
neuerdings auch linke Juden einzuladen. Aber es geht auch gar
nicht mehr um Palästinenser. Es geht um die Möglichkeit des
Denkens in Deutschland, die eine Art Grenze erreicht hat. Wie
kann sich die deutsche Kulturszene noch an der Spitze des
kritischen Denkens sehen, wenn bestimmte öffentliche
Diskussionen über Geschichte, Ethik und Völkerrecht vermieden
oder verhindert werden? Es scheint eine wachsende Zahl von
Deutschen zu geben, die sympathisch sind, sich aber trotzdem
nicht trauen, ihre Ansichten in der Öffentlichkeit zu teilen,
aus Angst, falsch etikettiert zu werden. Und ich denke, es gibt
eine Menge Pädagogen, die diese Politik gerne in den Unterricht
einbeziehen würden, vielleicht durch eine geschlossene
Veranstaltung mit Schülern, zu der man nur eingeladen wird.
Diese Gespräche finden also immer noch in begrenztem Maße statt,
aber es ist eine große Herausforderung, wenn sie in einem
öffentlichen Raum mit öffentlicher Finanzierung stattfinden.
EDB: Auf institutioneller Ebene kommt es täglich vor, dass
Beschwerden eingehen, die eine ganze Institution tagelang
lahmlegen. Zum Beispiel kann jemand anrufen und sagen: "Also,
auf eurer Website steht, dass so-und-so vor vier Jahren an eurer
Universität gesprochen hat, und diese Person hat jetzt etwas
veröffentlicht, das sich auf jemand anderen bezieht, und diese
andere Person hat einen Bericht mit jemandem verfasst, der
pro-BDS ist." Wir sprechen hier von dieser Abstraktionsebene.
Und die ganze Sache ist wie eine Drohung geschrieben. Diese
Dinge passieren die ganze Zeit. Und selbst wenn das Ministerium
oder Mitarbeiter, die anrufen, um sich zu erkundigen, fragen:
"Hey, können Sie erklären, worauf sich diese Person bezieht?
Könnten Sie eine schriftliche Erklärung abgeben?" - selbst wenn
diese Mitarbeiter verständnisvoll sind, wollen sie trotzdem
keinen Ärger.
Also suchen die Leute nach dem einfachsten Ausweg. Und das ist
ein Grund für Selbstzensur, ein Grund, Menschen mit einem
bestimmten Hintergrund nicht einzuladen. Es waren meistens immer
Leute mit arabischem Hintergrund, aber jetzt sind Israelis die
neuen Verdächtigen, besonders wenn sie in Berlin sind und links
sind. Sie sind die Art von Störenfrieden, die man nicht haben
will. Früher war es so, dass man sich hinter Israelis verstecken
wollte. Deutsche, die bestimmte Positionen äußern wollten,
suchten sich einen linken Israeli oder Palästinenser und ließen
ihn für sich sprechen. Aber so funktioniert das nicht mehr. Das
gibt nur Ärger. Und Ärger bedeutet, dass man seine Finanzierung
gefährden könnte. Das sind also sehr, sehr reale Faktoren, die
die Art und Weise beeinflussen, wie Institutionen Entscheidungen
darüber treffen, wen sie einstellen, wen sie beauftragen, wen
sie finanzieren, wen sie einladen. Wenn man sich anschaut, was
in den letzten Jahren passiert ist, hat sich niemand für
jemanden eingesetzt. Niemand in Deutschland setzte sich für das
Jüdische Museum ein. Keine einzige Institution in Deutschland
hat gesagt: "Wow, das ist schrecklich, dass der Direktor dieser
Institution zum Rücktritt gezwungen wurde, oder dass die
israelische Regierung - schriftlich - die deutsche Regierung
gebeten hat, das Jüdische Museum in Berlin nicht mehr zu
finanzieren." Als das passierte, gab es keine Proteste von
anderen Institutionen. Das ist ein abschreckender Effekt.
Um bei diesem Thema in Deutschland mitzumachen, muss man die
Realität leugnen. Man muss nicht nur die Realität dessen
leugnen, was in Israel oder Palästina vor sich geht, sondern
sogar die Realität Deutschlands als Teil der EU leugnen. Die EU
hat tatsächlich entschieden, dass sie Produkte aus dem
Westjordanland und den besetzten Gebieten als solche
kennzeichnen wird. Wenn Sie aber gleichzeitig die Position
einnehmen, dass Sie dann diese Produkte - die die EU selbst
beschlossen hat zu kennzeichnen - boykottieren würden, und Sie
sind Künstler, und Sie machen jetzt Fingermalerei, dann können
Sie dafür gekündigt werden. Sie müssen die Tatsache der
offiziellen EU-Politik leugnen. Auf der kulturell-symbolischen
Ebene muss man die Realität verleugnen und mitspielen. Und dazu
gehört, wie Jumana sagte, die Realität in Palästina nicht zu
erwähnen, weil es Deutsche beleidigt. Es ist nicht nur, dass es
sie beleidigt; es stört sie. Und die meiste Zeit wissen sie es
nicht wirklich. Und selbst wenn sie es wissen, ist es unbequemes
Wissen und sehr schwierig für sie, damit umzugehen.
Man muss schon mindestens einen schweren Nazi-Verbrecher-Opa
haben, um die Expertise zu haben, die man braucht, um über
Antisemitismus in Deutschland zu sprechen.
Ich denke, es ist auch schwierig, wenn ich aus einem jüdischen
Hintergrund und einer jüdischen Perspektive spreche. Ich finde
es sehr schwierig, damit umzugehen, auf deutsche Gefühle
Rücksicht zu nehmen, bevor ich spreche. Und tatsächlich werde
ich ständig dazu aufgefordert und explizit darum gebeten, dies
zu tun. Mir wurde von einer Grünen-Politikerin buchstäblich
gesagt, dass die Assoziationen, die BDS für sie als Nachfahrin
von Nazis hervorruft, sicherlich nichts sind, was ich als
Person, die nicht denselben Hintergrund hat, verstehen würde.
Das sind die am meisten traumatisierten Menschen, Deutsche, was
soll ich sagen! Man muss mindestens einen schweren
Nazi-Verbrecher-Opa haben, um die Expertise zu haben, die man
braucht, um über Antisemitismus in Deutschland zu reden. Es gibt
eine Person im Jüdischen Museum, die einen vage muslimisch
klingenden Namen hat und die Leute haben gesagt: "Wie kann sie
Antisemitismus studieren, wenn sie Muslima ist?" Es ist einfach
so verrückt. Es ist fast schon eine offizielle Anforderung, dass
man sagen muss: "Nun, mein Großvater hat 50.000 Menschen
getötet, deshalb bin ich hier, um über dieses Thema zu lehren."
Es ist in einem Ausmaß zur Farce geworden, dass es für
Außenstehende schwer zu vermitteln ist. Aber bei dem Konflikt in
Israel/Palästina geht es nicht um Deutsche und das vergessen die
Deutschen immer wieder. Es geht nicht um ihre Gefühle.
JM: 2016 gab es ein palästinensisches Festival für
zeitgenössische Kunst, das erste seiner Art in Berlin. Es wurde
von einer Gruppe palästinensischer Deutscher ins Leben gerufen,
die sehen wollten, was man in Berlin machen kann, da hier eine
der größten palästinensischen Diasporas in Europa lebt. Das
Festival fand in einem alternativen Theaterraum in
Berlin-Kreuzberg statt, der dafür bekannt ist, eher politische
Kulturveranstaltungen zu veranstalten. Aber angesichts der
Anzahl von Angriffen, die sie nach dem Festival erhielten, sagte
das Theater einfach, dass wir dieses Festival nie wieder
veranstalten werden, weil wir nicht riskieren können, unsere
Finanzierung zu verlieren. So wurde selbst in einem radikalen
Raum, der dieses Festival als Statement machte, das, was ein
halbjährliches Ereignis sein sollte, eingestellt. Selbst Räume,
die sich antikolonialen Kämpfen, Schwarzen Stimmen in
Deutschland, migrantischen Kämpfen usw. widmen - niemand will
dieses Thema anfassen, weil es bedeutet, dass sie sofort ihre
Finanzierung verlieren. Aber es ist noch nicht so weit, dass
Palästinenser ihre Arbeiten nicht mehr ausstellen. Ich lebe hier
und habe eine anständige Menge in Deutschland ausgestellt. Aber
öffentliche Programme, die sich mit Palästina oder der Kritik an
Israel beschäftigen, sind im Grunde ein No-Go.
SK: Die deutsche Öffentlichkeit könnte sogar mit Ihnen
sympathisieren, aber auch hier findet die Zensur von der
institutionellen Seite aus statt. Wir haben Räume, in denen wir
ein Narrativ schaffen können, das uns erlaubt, zu sprechen, auch
als Palästinenser. Es gibt jedoch Deutsche, die aus ihren
eigenen Gründen und mit ihren eigenen Motivationen kommen
werden, um ein Problem für die Programmierer dieser
Institutionen zu schaffen. Eigentlich, wenn man die
Veranstaltung mit einem schönen Strauß von "Vielfalt" umrahmt,
wird es sogar den offiziellen Politikern gefallen. Aber es wird
immer diese paar wahnsinnigen deutschen Exkulpations-Überflieger
geben, die auftauchen. Und ich meine nicht den Wahnsinn auf
individueller Ebene. Die Pathologie ist strukturell. Es ist eine
strukturelle Sache, weil es eine moralische Jouissance gibt,
sich als gegen eine imaginierte internationale Linke zu
präsentieren - sich als übereifriges kritisches Subjekt zu
inszenieren, gerade dadurch, dass man derjenige ist, der die
ideologische Polizei ruft und Druck auf diese Institutionen
ausübt. Es ist also nicht so, dass wir keine Räume haben. Wir
haben Räume. Aber wir haben ein Problem mit einer ganz
speziellen Art von selbsternannter deutscher Kritikalität. Ich
fürchte, wir müssen andere Wirkungsstätten für diese Leute
finden, weil sie uns im Moment auf den Fersen sind.
Es gibt eine moralische Genugtuung, sich als übereifriges
kritisches Subjekt zu inszenieren, gerade dadurch, dass man
derjenige ist, der die ideologische Polizei ruft und Druck auf
diese Institutionen ausübt.
EDB: Das System hat eine Spitzelkultur befähigt. Im Gegensatz zu
anderen Ausprägungen des Autoritarismus in der deutschen
Vergangenheit gibt es hier keine Expertenklasse von
Verhörspezialisten, die in einer Stasi-Schule ausgebildet
wurden. Stattdessen bekommt man einen Haufen Leute, die
verängstigt sind, versteinert, die E-Mails an unglaublich
bekannte Künstler schicken und sagen: "Könnten Sie bitte der
BDS-Bewegung abschwören?" Oder: "Das Internet sagt, ihr seid
vielleicht für den Boykott. Ist das wahr?" Und all das basiert
nur auf irgendeinem zufälligen Maulwurf. Es ist sehr erbärmlich.
Es ist sehr beunruhigend, wie mächtig es ist.
Ich glaube aber, dass es jetzt eine Gegenbewegung gibt. Ich
möchte nur ein wenig über die Tatsache sprechen, dass wir uns
auf verschiedene Arten organisieren. Ich glaube, es gibt ein
Gefühl dafür, dass es so nicht weitergehen kann, wie es ist. Die
Leute müssen auswandern und woanders hinziehen. Wissen Sie, nach
der Explosion in Beirut hatten viele meiner Freunde vor, nach
Berlin zu ziehen, und wir scherzten über die Löschung ihrer
Twitter-Accounts. Ich will die materiellen Folgen nicht
überdramatisieren, aber es ist etwas, das man in Betracht ziehen
muss, und es ist auch beängstigend. Ich finde es beängstigend.
Schauen Sie sich an, was in der "School for Unlearning Zionism"
passiert ist. Im Grunde gab es eine Gruppe israelisch-jüdischer
Frauen, die sich seit einem Jahr traf und sich selbst die
"School for Unlearning Zionism" nannte. Es war eine bewusst
interne Diskussionsgruppe für Menschen mit unterschiedlichem
Politisierungshintergrund, aber alle in Israel geboren und
aufgewachsen und jetzt in Deutschland lebend. Sie sprachen über
ihr Verhältnis zum jüdischen Nationalismus und ich glaube, sie
sprachen über ihre Erfahrungen in der Armee. Sie lasen gemeinsam
Dinge. Eine von ihnen ist Kunststudentin an der Kunsthochschule,
und sie hat diese Lesegruppe zu ihrem Masterprojekt gemacht und
es öffentlich zugänglich gemacht. Im Rahmen ihrer Ausstellung
gab es einen Monat lang Programm und Veranstaltungen, wie z.B.
Zoom Talks.
[Bildbeschreibung: Foto des Ausstellungsstücks, das einen
rechteckigen Korridor zeigt, dessen linke Seite eine weiße Wand
ist, die mit zwei großen Fenstern verkleidet ist, die auf die
Herbstbäume draußen blicken, und dessen rechte Seite eine weiße
Wand ist. Auf der weißen Wand im Vordergrund befindet sich ein
schwarzer Schriftzug in Großbuchstaben, der lautet: "DIE
GESICHTE EINTER FRAU [AUS DEM ARCHIV]". Im Hintergrund,
gegenüber der Kamera, befindet sich eine dritte, kleinere weiße
Wand, die die beiden anderen Wände verbindet. Im Profil auf
einem Holzstuhl sitzend, starrt eine Frau mit schulterlangem,
dunklem Haar aus dem Fenster. Über ihrem Kopf hängt eine
hölzerne Kiste, die aus dieser Perspektive kaum zu entziffern
ist und an Metallketten hängt."]
Zuerst schaffte es das Bild in die israelische Presse, dann ging
es an die Jüdische Allgemeine, die offizielle Zeitung des
Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie berichteten darüber,
indem sie sagten, dass es eine BDS-nahe Gruppe gibt - "BDS nah"
- die diese Veranstaltungen organisiert. Es wurde übrigens nicht
erwähnt, dass es jüdische Israelis sind. Es wurde nur erwähnt,
dass das, was sie taten, antisemitisch war, dass es Israel
dämonisierte, blah blah bah. Dieser Vorfall wurde dann in die
"Chronologie antisemitischer Vorfälle" aufgenommen, die von
Deutschlands führender NGO gegen Rechtsextremismus, der Amadeu
Antonio Stiftung, die übrigens von einem ehemaligen
Stasi-Spitzel geleitet wird, zusammengestellt wurde. In dieser
Chronologie steht der jüdische Lesekreis zwischen einem Angriff
auf einen jüdischen Mann, der vor einer Synagoge in Hamburg mit
einer Schaufel angegriffen und schwer verletzt wurde, und
Hakenkreuzverunstaltungen auf jüdischen Friedhöfen.
Doch gegen all das gibt es wachsenden Widerstand. Die
anfängliche Medienberichterstattung war schrecklich, aber es gab
auch eine Gegenreaktion darauf. Eine der Studentinnen wurde
gebeten, im Radio ihr Projekt zu erläutern, und sie erklärte,
dass dies ihre Geschichte sei, dass die Deutschen ihre
Familiengeschichte nicht besitzen. Ich denke, dass es jetzt eine
gewisse Gegenreaktion gibt.
JM: Ich habe den Eindruck, dass sich der Diskurs trotz der
Anti-BDS-Resolution und der peinlichen Serie von Ereignissen,
die sich daraus ergeben haben, ein wenig zum Besseren wendet.
Vor allem Berlin wird immer vielfältiger und ich denke, dass
dies zusammen mit dem allgemeinen Verständnis für die Tiefe der
israelischen Staatsgewalt die Dinge verändert. Auch wenn es
gleichzeitig starke politische Bestrebungen gibt, den
palästinensischen Kampf gänzlich zu negieren, vor allem aus den
USA und den Golfstaaten in diesem Jahr. Was den Diskurs in
Deutschland betrifft, so öffnen sich die Dinge vielleicht ein
wenig. Aber sehr, sehr langsam. Es wird Generationen brauchen,
bis sich die Dinge wirklich ändern.
SK: Ich bin hier eher ein Pessimist, aber dennoch
optimistisch in diesem Sinne: Diese Deutschen sind verzweifelt.
Es liegt eine gewisse Pathologie in dieser Extra-Investition,
uns zu verfolgen. Im feministischen Diskurs nennt man das
männliche Fragilität. Ich sehe eine deutsche Zerbrechlichkeit,
im Extremfall. Aus dieser Perspektive denke ich also, dass wir
diesen sehr speziellen deutschen Diskurs irgendwann überleben
werden. Aber aus einer breiteren geopolitischen Perspektive bin
ich sehr, sehr pessimistisch. Ich denke, heute können die
schlimmsten Leute ihre Agenden durchsetzen. Sie können immer ein
ideologisches Schlachtfeld finden, um diesen Druck abzulassen,
ihn abzulenken und es unmöglich zu machen, sich mit dem
eigentlichen Antagonismus zu befassen. In Deutschland und vielen
EU-Staaten sind wir zu Experten für einen kompletten
Nonsens-Diskurs geworden, während vor Ort die Politik der
Enteignung, der Besatzung und der Kriegsverbrechen weitergeht.
Ich denke aber, dass wir besser gerüstet sind, mit denen
umzugehen, die uns nachgeschickt werden. Sie sind wirklich
verzweifelt. Man kann sehen, wie es immer verrückter wird,
deshalb denke ich, dass sie verlieren, wenn wir einfach unseren
Mann stehen. Wir sind die Partisanen in diesem Diskurs. Solange
wir hier sind, verlieren sie. Und sie können die Schlacht nicht
gewinnen. Das ist die Asymmetrie der Position des Partisanen:
Man gewinnt den Sieg nicht, indem man gewinnt, sondern indem man
auf dem Boden bleibt, indem man nicht verschwindet.
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