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Palästina 2030: eine Dystopie
Interview mit Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu Zukunftsszenarien für Palästina

Muriel Asseburg - Katja Hermann

Die Fragen stellte Katja Hermann, Leiterin des Westasien-Referats der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin.


Katja Hermann: Wenn Sie ein Szenario für Palästina im Jahr 2030 entwerfen müssten, worauf würden Sie besonders hinweisen?


Muriel Asseburg: Das plausibelste Bild Palästinas in zehn Jahren ist das einer Dystopie. Ich gehe davon aus, dass die beiden Hauptkonflikte, die derzeit die Situation bestimmen, auch dann nicht gelöst sein werden: der israelisch-palästinensische Konflikt und die innerpalästinensische Spaltung, also die Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas. Das heißt aber nicht, dass es beim Status quo bleiben wird. Vielmehr erwarte ich eine fortschreitende Erosion der im Rahmen der Oslo-Friedensverhandlungen [in den 1990er Jahren; Anm. d. R.] verabredeten Arrangements.

Muriel Asseburg ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Sie beschäftigt sich derzeit vor allem mit Konfliktdynamiken und -regelungsmöglichkeiten in Syrien und Israel/Palästina. Aktuelle Publikationen finden sich in Ihrem Forscherinnenprofil.​​

Wie könnte die Situation vor Ort dann aussehen?


2030 gäbe es keinen souveränen, lebensfähigen palästinensischen Staat. Das ohnehin nur nominell demokratische Regierungssystem der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) wäre zusammengebrochen. Das palästinensische Territorium wäre noch stärker fragmentiert als heute. Lokale Strongmen würden einzelne Enklaven autoritär kontrollieren und hätten jeweils separate Arrangements mit Israel.

Die PA hätte keine nennenswerte Funktion mehr, da ihre Kapazitäten und Zuständigkeiten extrem erodiert wären – oder sie wäre bereits Geschichte. Palästina wäre von starker Instabilität geprägt, radikale Splittergruppen wären gestärkt.

Israel hätte große Teile der West Bank wiederbesetzt; die ansässigen Palästinenser*innen wären dort wieder unter direkter militärischer Besatzung – gleich, ob Israel die Gebiete de jure annektiert hätte oder nicht. Damit einhergehen würde eine beschleunigte Verdrängung der palästinensischen Bevölkerung aus strategischen oder ideologisch bedeutsamen Gebieten (wie Ostjerusalem, Jordantal, der sog. Seam zone [Gebietsstreifen zwischen der Grünen Linie und der Mauer; Anm. d. R.], Hebron). Der Gazastreifen wäre noch stärker abgeschottet als heute und Jerusalem wäre von seinem palästinensischen Hinterland isoliert. Es käme dort immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen auf und um den Tempelberg/Haram al-Scharif.

Die internationale Präsenz wäre deutlich reduziert und würde sich in erster Linie auf humanitäre Akteure beschränken. Der Zugang für Menschenrechtsorganisationen, UN Fact Finding Missions, diplomatische Vertretungen, internationale Beobachter*innen, Solidaritätsbewegungen und Aktivist*innen sowie internationale Medien wäre extrem eingeschränkt – vergleichbar dem, wie es heute schon im Gazastreifen der Fall ist. Damit fielen wichtige Schutzfunktionen für die palästinensische Bevölkerung weg.

Was würde das für die internationale Zusammenarbeit bedeuten?

Die Regelung der Palästinafrage wäre in diesem Szenario für internationale Akteure zunehmend irrelevant. Unterstützung Europas und der USA wäre reduziert auf humanitäre Hilfe, vor allem auf Nothilfe. Die Zusammenarbeit mit der palästinensischen Zivilgesellschaft, Städtepartnerschaften, etc. fielen weitgehend weg, da die palästinensischen Akteure bei uns wegen Antisemitismus- und Terrorvorwürfen diskreditiert wären. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNRWA wäre delegitimiert und stark unterfinanziert. Damit hätten auch Verteilungskämpfe in Palästina und in den Hauptaufnahmeländern der palästinensischen Flüchtlinge [vor allem: Jordanien, Libanon, Syrien; Anm. d. R.] zugenommen; es wäre zudem zu erheblichen Rückschritten bei der Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele, der sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs) gekommen.

Diese Entwicklungen hätten auch Auswirkungen auf Europa. Denn die junge palästinensische Generation sähe in Palästina keine Perspektive mehr; auch die Hoffnung auf gleiche Rechte in einem binationalen Staat [ein Ansatz, der als Alternative zur Zwei-Staatenregelung diskutiert wird; Anm. d. R.] wäre stark zurückgegangen. Die Folgen wären nicht zuletzt ein hoher Migrationsdruck und ein Nährboden für Radikalisierung bzw. ein Einfallstor für internationale jihadistische Rekrutierung.

Was muss getan werden, um die von Ihnen beschriebene Dystopie noch abzuwenden?

Ich finde es sehr wichtig zu betonen, dass wir uns nicht in einer griechischen Tragödie befinden, soll heißen: diese Entwicklung ist nicht vorbestimmt. Sie kann durch ein entschiedenes Umsteuern verhindert werden.

Dazu reicht es allerdings nicht, auf erneute Verhandlungen zu setzen, ohne die Rahmenbedingungen zu verändern. Es muss vielmehr darum gehen, bei Verhandlungen die asymmetrische Machtsituation zwischen den Konfliktparteien auszugleichen – statt wie unter der Trump-Administration noch zu verstärken. Vor allem aber gilt es, auf die Kosten-Nutzen-Kalküle der beiden Führungen Einfluss zu nehmen. Besatzung, De-facto-Annexion und Verdrängung durch Israel dürfen dabei nicht normalisiert werden, sondern müssen hohe Kosten haben. Autoritäres Regieren auf Seiten der PA darf nicht hingenommen werden, sondern muss Folgen nach sich ziehen.

Welche Rolle sollte dabei die deutsche Politik einnehmen, die einerseits im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit der größte bilaterale Geldgeber für Palästina ist, sich aber andererseits mit politischen Forderungen zurückhält?


Ich halte drei Punkte für besonders wichtig: Erstens sollte Deutschland seine Politik konsistenter an den Prinzipien ausrichten, die durch die Zweistaatenregelung umgesetzt werden sollen, also an einer Regelung des Konflikts, die auf dem Selbstbestimmungsrecht beider Völker beruht, die individuelle Menschenrechte sowie die Sicherheit aller garantiert und die die Flüchtlingsfrage so regelt, dass sowohl das individuelle Recht palästinensischer Flüchtlinge auf Rückkehr als auch die Interessen von derzeitigen und potentiellen Aufnahmestaaten, inklusive Israels, berücksichtigt werden. Konkret lässt sich daraus unter anderem eine konsistente Differenzierung zwischen Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten ableiten, die sich in einem Umgang mit Siedlungsprodukten und Geschäftsbeziehungen mit Siedlungen niederschlagen müsste, der der völkerrechtlichen Position angemessen ist. Es würde auch beinhalten, sich Delegitimationskampagnen gegen Menschenrechtsverteidiger*innen klar entgegenzustellen sowie die Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit in Deutschland gegenüber solchen Kampagnen zu schützen. Und es würde bedeuten, internationale Untersuchungen, etwa durch den Internationalen Strafgerichtshof, zu unterstützen statt sie verhindern zu wollen.

Zweitens sollte Deutschland als größter bilateraler Geber seine Erwartungen gegenüber der PA klar ausbuchstabieren und Unterstützung nicht bedingungslos gewähren. An erster Stelle sollten dabei die Überwindung der internen Spaltung zwischen Fatah und Hamas sowie eine demokratische Erneuerung der palästinensischen Institutionen stehen. Dabei reicht es nicht, auf die Abhaltung von Wahlen zu drängen. Denn derzeit sind die Bedingungen für freie und faire Wahlen nicht gegeben, selbst wenn man von den Einschränkungen der Besatzung absieht. Diese müssten zunächst einmal geschaffen werden, damit Wahlen die Spaltung nicht weiter vertiefen, sondern zu einer personellen Erneuerung führen und eine legitimierte palästinensische Führung mit breiter Akzeptanz hervorbringen können. Gleichzeitig müssen Deutschland und seine Partner*innen in der EU auch überprüfen, wo sie selbst einer Umsetzung dieser Forderungen im Wege stehen – etwa durch ihre no contact policy gegenüber der Hamas.

Drittens sollte sich Deutschland gemeinsam mit europäischen Partner*innen – hier bietet sich das Quintformat an, das Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und das Vereinigte Königreich umfasst – kurzfristig für vertrauensbildende Maßnahmen und mittelfristig für eine Konfliktregelung einsetzen. Dazu sollten sie, ausgehend von den bisherigen Erfahrungen und unter Einbeziehung Jordaniens, Ägyptens und der arabischen Golfstaaten und in Kooperation mit der nächsten US-Administration, auf einen geeigneten multilateralen Rahmen für Verhandlungen hinarbeiten. Dazu würde gehören, Prinzipien für eine Verhandlungsregelung vorzugeben, eine robuste und unparteiische Vermittlung anzubieten, die Umsetzung eines Abkommens durch einen unabhängigen Überprüfungs- und Konfliktregelungsmechanismus zu begleiten und substantielle Sicherheitsgarantien vorzusehen. Im Vordergrund muss allerdings auch dann die Frage stehen, wie bei den Konfliktparteien der notwendige politische Wille zu einem tragfähigen Ausgleich mobilisiert werden kann, statt lediglich gebetsmühlenartig auf eine Zweistaaten-Regelung und die Notwendigkeit von Verhandlungen zu verweisen. Dies dürfte ohne das Ausbuchstabieren konkreter Kosten im Falle von Nichtkooperation kaum gelingen.   Quelle


 

Teil des Problems oder Teil der Lösung?
Gedanken zur Rolle internationaler Hilfe für den Gazastreifen
Ute Beuck - 18. November 2018


Im Jahre 2012 sagte ein Bericht der Vereinten Nationen das Jahr 2020 als das Jahr voraus, in dem der Gazastreifen für Menschen unbewohnbar sein würde, wenn nicht umgehend Maßnahmen ergriffen würden, um die dramatische Abwärtsspirale zu stoppen. Trotz dieser klaren Warnung hat sich die Situation im Gazastreifen durch die seit 2007 bestehende fast vollständige Abriegelung durch Israel und Ägypten und durch mehrere militärische Aktionen seitdem kontinuierlich verschlechtert.

Gleichzeitig ist die internationale finanzielle Unterstützung für die palästinensischen Gebiete nach wie vor enorm. Die Unterstützung durch über 40 Länder, gut zwei Dutzend UN-Organisationen und hunderte von internationalen Nichtregierungsorganisationen macht die Bevölkerung Palästinas zu Empfänger*innen der höchsten pro-Kopf-Hilfe in der Welt.

Wie kann es sein, dass sich trotz dieses massiven Mittelflusses die Lage im Gazastreifen nicht nachhaltig verbessert? Seit 1948 wurden und werden diverse Hilfs- und Entwicklungsprogramme mit unterschiedlichen Zielsetzungen in der Region implementiert. Seit den Oslo-Abkommen zwischen Israel und der PLO in den frühen 1990er Jahren diente der größte Teil der internationalen finanziellen Unterstützung im Rahmen der angedachten Zwei-Staaten-Lösung dem Aufbau der Institutionen und der Infrastruktur des künftigen palästinensischen Staates. Seit der de facto Machtübernahme der islamistischen Hamas im Gazastreifen im Jahr 2007 und dem Vorbehalt vieler Geberorganisationen, mit der Hamas zu kooperieren, ist es heute überwiegend humanitäre Hilfe, die den Gazastreifen erreicht.

Ute Beuck ist Büroleiterin des RLS-Büros in Ramallah.

Neben den bekannten Herausforderungen der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe – wie die mögliche Förderung von Korruptionsanfälligkeit sowie etwaige Ineffizienz – gibt es mit Blick auf den Gazastreifen spezifische Problematiken, die der nachhaltigen Verbesserung der dortigen Lebensbedingungen entgegenstehen; einige davon, die auf Seiten der Geberorganisationen liegen, sollen hier kurz angerissen werden. Das bedeutet nicht, dass andere Gründe weniger relevant sind und dass nicht auch andere Faktoren einen großen Einfluss auf die gegenwärtige Situation haben. So liegt nach wie vor die eigentliche Verantwortung für die Versorgung der Menschen im Gazastreifen bei Israel als Besatzungsmacht, aber auch die Politik von Hamas und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah folgt keiner abgestimmten langfristigen Strategie zur Verbesserung der Situation in dem Küstenstreifen.
Mechanismen der Geberkoordination

Im Zuge des Oslo-Abkommens wurde 1993 das Ad-hoc-Verbindungskomittee (AHLC) gegründet, um internationale Hilfe und Maßnahmen zu koordinieren. Das AHLC zielt darauf ab, den Dialog zwischen den Partner*innen der «Dreieckspartnerschaft», sprich den Geberorganisationen, Israel und der PA, zu fördern. Das allgemeine Verständnis war, dass dieser Mechanismus bis zum Ende einer fünfjährigen Interimsphase gelten würde, an dessen Ende die Gründung eines palästinensischen Staates stehen sollte. Das dafür festgesetzte Datum ist bekanntlich vor über 20 Jahren verstrichen, ohne dass es zu einer Staatsgründung gekommen ist. Trotzdem kommt das AHLC immer noch zweimal im Jahr unter dem Vorsitz Norwegens zusammen. Damit wird Jahre nach dem ergebnislosen Ende von Oslo nicht nur Israel durch die Geberorganisationen subventioniert – Israel ist nach internationalem Recht als Besatzungsmacht für die Versorgung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten zuständig – sondern Israel wird auch weiterhin ein Mitspracherecht bei der Verteilung und Umsetzung von Entwicklungsmaßnahmen in Palästina eingeräumt.

Dem AHLC folgten im Laufe der Zeit weitere sogenannte temporäre Mechanismen der Donor-Koordination, von denen sich einige ebenfalls als langfristig erwiesen haben. In Bezug auf den Gazastreifen ist zudem der Gaza Reconstruction Mechanism(GRM) hervorzuheben, der zum Wiederaufbau des Gazastreifens nach dem Krieg im Jahr 2014 ins Leben gerufen wurde. Auch hier ist wieder eine Drei-Parteien-Teilnahme vorgesehen, in diesem Fall die Israels, der PA und der Vereinten Nationen. Der GRM wurde eingerichtet, um die Einfuhr von dringend benötigten Baumaterialien nach Gaza zu erleichtern. Der Gedanke hinter dieser Drei-Parteien-Vereinbarung war, dass durch die Einschaltung einer neutralen Position die Sicherheitsbedenken Israels ausgeräumt werden könnten und so der Import von den für den Wiederaufbau benötigten Baumaterialien in den Gazastreifen beschleunigt würde. Stattdessen erlaubt die Art und Weise, wie der GRM konzipiert wurde, Israel seit Jahren das letzte Wort über jedes Bauprojekt oder Baumaterial, das nach Gaza gelangen soll. Insbesondere Beschränkungen für Güter mit sogenanntem doppelten Verwendungszweck, die für zivile und für militärische Zwecke verwendet werden könnten, belasten die wirtschaftliche Entwicklung erheblich. So hat Israel für Gaza 62 Güter zusätzlich zu einer bereits langen Liste von 56 Artikeln für das Westjordanland gelistet. Die Einfuhrrestriktionen von Waren nach Gaza behindern die Durchführung öffentlicher Infrastrukturprojekte, da für diese mehrere Elemente von der Liste der doppelten Verwendungszwecke erforderlich sind, darunter Baumaterialien, Maschinen und Chemikalien.
Durchsetzung eigener Interessen

Die so oft beschworene internationale Gemeinschaft ist kein homogener Block. Sie besteht aus diversen Akteuren mit sich zum Teil widersprechenden Eigeninteressen. Trotz anderslautender Verlautbarungen spiegeln sich diese Interessenlagen in der Regel bei der Vergabe von Entwicklungs- und humanitärer Hilfe wider. Im Falle Palästinas zeigen sich diese unterschiedlichen Interessen besonders deutlich.

Mit Blick auf die USA sind die nationalen Eigeninteressen seit Amtsantritt von Donald Trump sehr offen sichtbar geworden. Washington hat in der Vergangenheit rund ein Viertel der gesamten internationalen Hilfe für das Westjordanland und den Gazastreifen geleistet. Auch fast ein Drittel der Unterstützung der UNWRA, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge, kam von den USA. Seit 2018 ist klar, dass die USA im Nahen Osten künftig eine neue Rolle spielen wollen. Mit   mehr >>>

 

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Offener Brief
Wir können nur ändern, was wir konfrontieren

Als Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen und Kulturschaffende, die in Deutschland leben und/oder mit deutschen Kulturinstitutionen zusammenarbeiten, begrüßen wir die „Initiative GG 5.3. Weltoffenheit“, die am 10. Dezember 2020 von einer breiten Koalition bedeutender deutscher Kultureinrichtungen bekanntgegeben worden ist.

Die genannte Initiative ist eine späte Reaktion auf den umstrittenen Bundestagsbeschluss vom Mai 2019, in dem die Ziele und Methoden der palästinensischen Solidaritätsbewegung „Boycott, Divestment, Sanctions“ (BDS) offiziell als antisemitisch verurteilt wurden. Dieser Beschluss wurde von einer breiten Mehrheit fast aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien getragen und forderte, Projekten, die die BDS-Bewegung „aktiv unterstützen“, öffentliche Gelder zu entziehen. Die Stellungnahme kritisiert diesen Bundestagsbeschluss und beschreibt ihn als „gefährlich“. Wir teilen diese Besorgnis und betrachten die Einschränkung des Rechts auf Boykott als Verletzung demokratischer Prinzipien. Seit Verabschiedung dieses Beschlusses wird er als Mittel eingesetzt, um marginalisierte Positionen zu verzerren, zu verleumden und zum Schweigen zu bringen, insbesondere solche, die sich für palästinensische Rechte einsetzen oder kritisch zur israelischen Besatzung äußern.

Wir fordern den Deutschen Bundestag eindringlich dazu auf, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu achten, der kürzlich die Kriminalisierung von Israel-bezogenen Boykottaufrufen ablehnte und gegen eine Verfolgung gewaltloser Aktivist*innen entschied sowie Boykotte als legitime Ausübung von Meinungsfreiheit bestätigte (Juni 2020). Kein Staat sollte von Kritik ausgenommen sein. Unabhängig davon, ob wir BDS unterstützen oder nicht, sind wir uns als Unterzeichner*innen dieses Briefs einig, dass es ein Recht darauf gibt, gewaltfreien Druck auf Regierungen auszuüben, die Menschenrechte verletzen.

Wir lehnen den Bundestagsbeschluss ab, weil er genau dieses Recht verweigert. Wir lehnen ihn ab, weil er die Polarisierung innerhalb der Kulturszene in einer Zeit verschärft hat, in der der Aufstieg rechter Nationalismen von uns erfordert, in Solidarität im Kampf gegen den zunehmenden Hass zusammenzustehen, der sich in Deutschland und darüber hinaus verbreitet. Wir lehnen ihn ab, weil er für öffentliche Institutionen genau in dem Moment praktisch ein Klima der Zensur geschaffen hat, in dem diese sehr vielfältige, in Deutschland aktive Community eine wichtige Rolle bei der Schaffung einer kritischen und inklusiven Kultur spielen sollte, auch als Alternative zu Autoritarismus, Rassismus und Xenophobie, die die extreme Rechte zu verfestigen versucht.

Der Beschluss hat ein repressives Klima erzeugt, in dem Kulturschaffende routinemäßig dazu aufgefordert werden, BDS zu verurteilen, um in Deutschland arbeiten zu können. Währenddessen werden Kulturinstitutionen immer mehr von Angst und Paranoia getrieben, zeigen sich anfällig für Selbstzensur und schließen in vorauseilendem Gehorsam kritische Positionen durch Nichteinladung aus.

Eine offene Debatte über vergangene und gegenwärtige Verantwortlichkeiten Deutschlands in Bezug auf Israel/Palästina ist so gut wie erstickt worden. Foren des kulturellen Austauschs, in denen wir bisher zusammengekommen sind, um über die ineinander verschränkten Geschichten nachzudenken und zu debattieren, aus denen wir kommen und in denen wir existieren, werden regelmäßig verweigert, da Institutionen bestrebt sind, politische Zurechtweisung und den Verlust öffentlicher Mittel zu vermeiden. In diesem Klima wurden bereits einige wertvolle Stimmen – wie die von Achille Mbembe, Kamila Shamsie, Peter Schäfer, Nirit Sommerfeld und Walid Raad  – dämonisiert, was die notwendige kollektive Beurteilung sich überkreuzender Formen und Wirkungen von Gewalt behindert, die unsere Gegenwart weiterhin prägen.

Der Beschluss ignoriert die Vielfalt jüdischer Meinungen innerhalb und außerhalb Deutschlands, insbesondere die vieler linker jüdischer und israelischer Stimmen, die die gut dokumentierten Verstöße Israels gegen das Völkerrecht vehement kritisieren. Solche Stimmen werden erstaunlicherweise – und immer häufiger – als „antisemitisch“ disqualifiziert. Der Beschluss lässt außerdem Warnungen von außenpolitischen Experten, Menschenrechtsorganisationen und deutschen Stiftungen außer Acht, die direkt im Nahen Osten tätig sind und von denen viele sich ausdrücklich gegen die problematische Art und Weise gewandt haben, in der der Beschluss Kritik an Israel mit antijüdischem Rassismus vermischt. Diese Vermengung schützt Israel davor, gemäß völkerrechtlichen Maßstäben zur Rechenschaft gezogen zu werden, und verschleiert die historischen und politischen Umstände, die den palästinensischen Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit hervorgerufen haben. Sie schadet auch dem anhaltenden Kampf gegen den virulenten Anstieg von Antisemitismus weltweit sowie innerhalb des deutschen Parlaments, der Polizei, der Bundeswehr und der Geheimdienste.

Wir erkennen das Bekenntnis Deutschlands zu seiner historischen Verantwortung für den Holocaust an und schätzen es zutiefst. Gleichzeitig verurteilen wir die ungeheure Nachlässigkeit des deutschen Staates, wenn es darum geht, die deutsche Täterschaft für vergangene koloniale Gewalt anzuerkennen. Der Kampf gegen Antisemitismus kann nicht nach Belieben von parallelen Kämpfen gegen Islamophobie, Rassismus und Faschismus entkoppelt werden. Nachdrücklich lehnen wir die Monopolisierung von Unterdrückungserzählungen durch Staaten wie Deutschland ab, die historisch Unterdrücker waren. Wir lehnen die Vorstellung ab, dass die Leiden und Traumata von Opfern politischer und historischer Gewalt gemessen und in eine Rangfolge gebracht werden können.

In Solidarität mit den Kulturinstitutionen, die sich vor uns geäußert haben, fordern wir den Deutschen Bundestag auf, den umstrittenen Beschluss zurückzunehmen. Wir fordern die Kulturinstitutionen auf, ihren Worten bedeutsame Taten folgen zu lassen. Wir bitten sie, eine Führungsrolle bei der Wiederherstellung von Bedingungen einzunehmen, unter denen der produktive Austausch widerstreitender Meinungen stattfinden kann. Eine übereifrige Überwachung der politischen Ansichten von Kulturschaffenden aus dem Nahen Osten und dem globalen Süden muss als das angesehen werden, was es ist – Racial Profiling durch die Hintertür –, und muss sofort eingestellt werden. Die Verleumdung von Individuen durch unbegründete Antisemitismusvorwürfe muss aufhören.

Wir schließen mit den Worten James Baldwins, einem scharfsinnigen Beobachter der Verbrechen des Holocaust sowie der Grauen der Sklaverei, des Kolonialismus und des Rassismus:

“Not everything that is faced can be changed. But nothing can be changed until it is faced.”    - Quelle

 

Leid teilen, Hoffnung spenden
Die israelisch-palästinensische Gedenktagszeremonie
Tamar Almog
Versammlung zum israelisch-palästinensischen Gedenktag 2018 im Jarkon-Park in Tel Aviv
Foto: Tatyana Gitlitz-CFP

Ich möchte mit dem Schlussakt beginnen, der zugleich ein Anfang ist. Die Gedenktagszeremonie, um die es in diesem Text geht, endet traditionell mit einem Chor jüdischer und palästinensischer Frauen aus Israel, die eine Abwandlung des Chad Gadya auf Hebräisch und Arabisch singen. Chad Gadya ist eigentlich ein aramäisches und hebräisches Volkslied, das zum Abschluss des Sederabends am jüdischen Pessachfest gesungen wird. Es erzählt in Form einer Zählgeschichte von einer Gewaltspirale: Das Lamm wird von der Katze gefressen, die vom Hund gebissen wird, der vom Stock geschlagen wird, der wiederum vom Feuer verbrannt wird uns so weiter. Der israelische Musiker Chava Alberstein stellt in seiner Version des Lieds am Ende die Frage, wann dieser Wahnsinn, dieser Kreislauf des Schreckens, endet. Aus dem Teufelskreis auszubrechen und eine Alternative zu schaffen, steht im Zentrum der Zeremonie (Chad Gadya beginnt bei 1:01:20) über die ich schreibe.

Tamar Almog ist Projektmanagerin im Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv, das die israelisch-palästinensische Gedenktagszeremonie seit 2011 unterstützt.

Ich bin jüdische Israelin von aschkenasischer Herkunft. Ich bin in Tel Aviv geboren und aufgewachsen und stamme aus einer Mittelschichtsfamilie. Seit zwanzig Jahren bin ich als Linke politisch aktiv. Aus dieser Perspektive und von diesem Ausgangspunkt schreibe ich diesen Text.

Die israelisch-palästinensische Gedenktagszeremonie wurde von dem jüdischen Israeli Buma Inbar ins Leben gerufen, einem humanitären Aktivisten, wie er sich selbst nennt, und Vater von Yotam Inbar, der 1995 während seines Militärdienstes im Libanon getötet wurde. Die Zeremonie fand zum ersten Mal 2006 im Saal eines kleinen Vorstadttheaters in Tel Aviv statt. Seit 2007 wird sie von zwei Organisationen veranstaltet: den von ehemaligen israelischen und palästinensischen Kombattant*innen gegründeten Combatants for Peace (CFP), die sich im gemeinsamen gewaltlosen Widerstand gegen die Besatzung sowie im Aufbau von Netzwerken palästinensischer und israelischer Aktivist*innen engagieren; und dem Parents Circle – Families Forum (PCFF), einer israelisch-palästinensischen Organisation von Familien, die enge Familienmitglieder im Konflikt verloren haben. Der 1995 gegründete PCFF betreibt Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Seine Mitglieder lehnen die Besatzung ab und sind überzeugt, dass ein zukünftiger Friedensvertrag sich nur auf Grundlage einer Versöhnung zwischen den Menschen beider Nationen zu einem dauerhaften Frieden entwickeln kann.

Bei der ersten Zeremonie am Abend des Gedenktags 2006 sammelten sich wenige Dutzend Israelis und Palästinenser*innen in jenem düsteren kleinen Theatersaal, um gemeinsam den offiziellen Feierlichkeiten etwas entgegenzusetzen und an einer anderen Art von Zeremonie teilzunehmen, in der Israelis und Palästinenser*innen den Verlust, den Schmerz, die Trauer und auch die Einsicht teilen, dass Krieg kein Schicksal, sondern eine politische Wahl ist und wir die Pflicht haben, gewaltfrei für eine gerechte und gleichberechtigte Zukunft zu kämpfen. Auch ich war damals im Publikum, dankbar dafür, dass andere Menschen dieses Ereignis vorgedacht hatten und Wirklichkeit werden ließen. Es war einer der seltenen Momente in meinem Leben, in denen ich das Gefühl hatte, mit genau den richtigen Menschen am richtigen Ort zu sein, Grenzen zu überschreiten, die Normen, mit denen ich aufgewachsen war, zu durchbrechen und an der Gestaltung einer neuen Lebensweise teilzuhaben, die zugleich sehr persönlich und zutiefst politisch ist.

Seither wurde die Zeremonie jedes Jahr abgehalten. Sie hat zunehmend mehr Menschen angezogen, ist in immer größere Veranstaltungsorte umgezogen und wird auch per Livestream ausgestrahlt, wodurch sie ein immer größeres Publikum in Israel, Palästina und auf der ganzen Welt erreicht. 2009 nahmen rund 9.000 Menschen vor Ort teil und 30.000 sahen online zu. Aufgrund der Covid-19-Beschränkungen fand die Zeremonie 2020 online statt und wurde von rund 200.000 Zuschauer*innen verfolgt (viele davon außerhalb Israels und Palästinas).

In ihrem Ablauf ähnelt die Zeremonie mit ihren Reden und musikalischen Darbietungen vielen anderen, die am israelischen Gedenktag auf nationaler oder lokaler Ebene oder im privaten Rahmen abgehalten werden. Trotzdem unterscheidet sie sich in grundsätzlicher Weise: Sie wird von einer jüdischen und einer palästinensischen Person gemeinsam moderiert, und die Redner*innen sind größtenteils jüdische Israelis oder Palästinenser*innen aus den besetzten palästinensischen Gebieten, die Familienangehörige verloren haben. Die Zeremonie wird auf Hebräisch und Arabisch mit Übersetzung abgehalten, die Redner*innen sprechen über ihren Verlust und ihre Trauer, aber auch über ihren Weg von alles beherrschender Wut, Hass und Rachegefühlen, hin zu gemeinsamem jüdisch-palästinensischen gewaltfreien Aktivismus; und sie äußern politische Kritik.

Video der Zeremonie 2020 (auf Hebräisch und Arabisch, mit englischen Untertiteln):

Da ich in Israel geboren und aufgewachsen bin, waren der Gedenktag und die Gedenktagsfeierlichkeiten immer fester Bestandteil meines jährlichen Kalenders. Nach jüdischer Tradition erstreckt sich ein Tag von einem Abend zum nächsten. Entsprechend beginnt der «Gedenktag für die Gefallenen der Kriege Israels und die Opfer von Terroranschlägen», wie Jom haSikaron offiziell heißt, am Abend mit der Schließung von Geschäften und Entertainment (Restaurants, Cafés, Kinos usw.), Radiosender spielen melancholische Musik, lokale Fernsehsender bringen Dokumentarfilme über gefallene Soldaten und Geschichten über Heldentum und Trauer. Um 20 Uhr ist eine Minute lang eine Sirene zu hören und das ganze Land (zumindest an den jüdischen Orten) hält inne – die Menschen pausieren bei dem, was sie gerade tun, sie stehen auf, Autos und öffentlicher Verkehr kommen zum Stillstand, und eine Minute lang setzen wir mit dem schrillen Klang der Sirene im Ohr unsere alltägliche Routine aus. Am folgenden Morgen ertönt die Sirene ein weiteres Mal und für längere Zeit. Gedenktagszeremonien werden auf Militär- und Zivilfriedhöfen, in Schulen und sogar Kindergärten, in öffentlichen und privaten Einrichtungen und auf Plätzen abgehalten. Am Abend endet der Gedenktag, und der Unabhängigkeitstag beginnt. Diese zeitliche Nähe und die nationale Zeremonie, die unter Verbindung militärischer und ziviler Elemente den Übergang von der Trauer zur Freude markiert, symbolisiert und nährt das Ethos, das eigene Leben für das Land zu opfern.

Erst mit Ende zwanzig fing ich an, diese Geschichte infrage zu stellen, die mir immer wieder, an jedem Gedenktag, erzählt worden war. Ich begann, die traditionellen Gedenktagsveranstaltungen als mächtigen Mechanismus zur Formung einer Nationalerzählung zu sehen, die die Gefallenen (ausschließlich die «unseren») ehrt, während sie die Gesellschaft auf künftige Opfer vorbereitet und die militaristische Weltsicht in der israelischen Kultur stärkt. Als ich politisch bewusster und aktiver wurde, konnte ich nicht länger an solchen Zeremonien teilnehmen. Es dauerte weitere zwanzig Jahre, bis die erste israelisch-palästinensische Gedenktagszeremonie abgehalten wurde, und seither habe ich fast jedes Jahr daran teilgenommen.

Ich glaube, es gibt keinen Aspekt der israelisch-palästinensischen Gedenktagszeremonie, der unter CFP- und PCFF-Mitgliedern und im öffentlichen Diskurs nicht schon moniert, infrage gestellt, debattiert und kritisiert worden wäre. Sollte diese Veranstaltung am nationalen (jüdisch israelischen) Gedenktag oder einem anderen Tag stattfinden? Welcher Ort ist für die Zeremonie angemessen? Warum überhaupt eine Zeremonie abhalten, und dann noch im Format der staatlich choreografierten Zeremonien? Suggeriert die gemeinsame Zeremonie nicht fälschlich eine Symmetrie zwischen Besatzer*innen (jüdischen Israelis) und Unterworfenen (Palästinenser*innen aus den Autonomiegebieten)? Sollten Palästinenser*innen teilnehmen oder sollte es eine rein jüdisch-israelische Veranstaltung sein?

Das sind alles wirkliche Dilemmata, auf die es nicht unbedingt klare Antworten gibt. Doch im Rahmen einer andauernden Grundlagendiskussion lassen sich doch einige Argumente festhalten.

Wenn diese Veranstaltung die staatlich choreografierten Zeremonien und ihre Botschaft infrage stellen und eine alternative Form des Gedenkens bieten will, dann sollte sie in der Tat am Abend des Gedenktags in einer gut erreichbaren großen Stadt wie Tel Aviv stattfinden, um auch den Mainstream des (weitgehend jüdischen) israelischen Publikums zu erreichen.

Chen Alon, einer der Gründer*innen der CFP und seit vielen Jahren Leiter der Veranstaltung, spricht von einer «bewussten Grenzübertretung» und führt dafür an, dass die Gedenktagszeremonien nicht dem Mainstream und der herrschenden Ideologie allein gehören. Moti Fogel sprache sich in seinem Redebeitrag bei der Zeremonie 2011 gegen jegliche Gedenktagszeremonien aus, die israelisch-palästinensische eingeschlossen. Motis Bruder, Frau und drei Kinder wurden im März 2011 in der israelischen Siedlung Itamar im Westjordanland in ihren Betten von Palästinenser*innen getötet. Zwei Monate später bei seiner Rede wandte er sich nicht nur gegen jede Art von Gedenkzeremonie, sondern gegen die Idee eines kollektiven Gedenktags überhaupt. Seine Trauer sei privat. Das Gedenken an die Toten zur Rechtfertigung von Krieg und weiteren Toten zu benutzen, sei nicht weniger verwerflich, als damit für Frieden zu werben, ganz gleich aus welchen politischen Erwägungen heraus. Dieses Verhältnis zur Erinnerung sei zynisch, man mache es sich damit zu leicht, der sprachlosen Trauer über den Tod anderer Menschen zu entfliehen. Der wahrhaftigste Moment am Gedenktag sei die Sirene – das Aussetzen aller Gespräche und Tätigkeiten. Wenn die israelisch-palästinensische Zeremonie den Kreislauf der Trauer und Erinnerung mit Versöhnung und Frieden beenden möchte, so könne das doch aktuell nicht geschehen, es sei einfach nicht möglich, mit gutem Gefühl nach Hause zu gehen.

Chen Alon sagt, dass persönliche Erzählungen von den nationalen, kollektiven Narrativen durchzogen sind und dass die Zeremonie das Bedürfnis anspricht, sich mit der eigenen nationalen Identität in Kontakt zu bringen, allerdings mittels eines menschlichen Universalismus, der dem Narrativ der Aufopferung für das Land und der Vorbereitung der nächsten Generation auf den Krieg entgegengesetzt wird.

Impliziert eine gemeinsame Zeremonie Symmetrie zwischen den jüdischen Besatzer*innen und den unterdrückten Palästinenser*innen? Die Organisator*innen erkennen an, dass die Zeremonie im Rahmen einer eklatant asymmetrischen und ungerechten Realität stattfindet, die durch die Besatzung und zahllose damit verbundene Unterdrückungsmechanismen geprägt ist. Die Zeremonie findet in Tel Aviv statt und richtet sich in erster Linie an eine breite jüdische Öffentlichkeit, gerade weil Israel als die stärkere Seite verstanden wird, die die Macht und Verpflichtung hat, die Situation zu verändern. Palästinensische Mitglieder beider Veranstalterorganisationen werden gebeten, sich ihren jüdischen Mitstreiter*innen anzuschließen und sich daran zu beteiligen, diese Öffentlichkeit zu schaffen.

Naturgemäß sind Zeremonien, da bilden die Gedenktagszeremonien keine Ausnahme, kollektive Ereignisse, die die Frage aufwerfen, wer davon ausgeschlossen bleibt. In diesem Fall und auch im Allgemeinen sind das die palästinensischen Bürger*innen Israels. In den letzten Jahren hat es einige Initiativen gegeben, am Gedenktag gemeinsame Veranstaltungen anderer Art abzuhalten, in denen sich auch palästinensische Bürger*innen Israels wiederfinden können.

Der Gedenktag gilt gewöhnlich als sakrosanktes Ritual, dem man buchstabengetreu zu folgen hat. Alternative Formen des Gedenkens werden daher als Tabubruch wahrgenommen, der im besten Fall als Provokation abgetan, im schlimmsten als Verrat angesehen wird. Im Kontext des andauernden israelisch-palästinensischen Konflikts und der israelischen Besatzung erscheint die israelisch-palästinensische Gedenktagszeremonie als unausdenkbare Kollaboration mit dem Feind.

Palästinenser*innen aus dem Westjordanland, die an der Zeremonie teilnehmen möchten, benötigen wie die meisten Palästinenser*innen, die Israel betreten wollen, eine Einreiseerlaubnis der israelischen Zivilverwaltung (einer Militärbehörde, die die Palästinenser*innen im Westjordanland regiert). Wie ein Ritual innerhalb eines Rituals werden alle Anträge zunächst immer abgelehnt und erst nach der Anrufung des obersten israelischen Gerichtshofs und ein wenig Berichterstattung in den Medien einige davon in letzter Minute genehmigt. Daher werden die Beiträge palästinensischer Redner*innen im Vorfeld aufgezeichnet und im Hauptsaal auf eine Leinwand projiziert, falls sie nicht persönlich auf der Bühne sein können.

Einen geeigneten Veranstaltungsort für das stetig wachsende Publikum sowie Musiker*innen für die Zeremonie zu finden, ist eine wirkliche Herausforderung. Auch Redner*innen und Moderator*innen sehen sich Kritik ausgesetzt und werden manchmal gewarnt, dass ihnen durch ihre Teilnahme ein bestimmter Stempel (als was?) aufgedrückt werden kann. Jedes Jahr findet vor dem Veranstaltungsort eine Gegendemonstration statt. Kritik an der Zeremonie und Protest dagegen ist natürlich legitim, doch in den letzten Jahren haben nicht nur die Teilnehmerzahlen bei diesen Demonstrationen, sondern auch das Ausmaß verbaler und physischer Angriffe zugenommen: Anschreien, Beleidigen, Anspucken, manchmal auch Würfe mit Gegenständen und sogar physische Attacken auf Teilnehmer*innen. Die Polizei ist vor Ort, um strenge Sicherheitsauflagen durchzusetzen, mit denen es ihr partiell gelingt, solche Gewaltakte seitens der Gegendemonstrant*innen zu verhindern. Noch heftiger ist die Hetze in den sozialen Medien während der Wochen vor der Veranstaltung. Dort wird den Redner*innen und dem Publikum der Tod in allen möglichen Varianten gewünscht und ihnen in einer sexuell beleidigenden und äußerst aggressiven Sprache gedroht, die ich hier nicht wiedergeben möchte.

Rechte israelische Politiker*innen tragen ihren Teil zur Delegitimierung der Zeremonie bei. Beispielsweise kündigte 2018 der damalige Verteidigungsminister Avigdor Lieberman an, dass er 110 Palästinenser*innen, deren Einreiseerlaubnis durch die israelischen Sicherheitsbehörden bereits erteilt worden war, von der Teilnahme an der Zeremonie ausschließen werde. Zur Rechtfertigung seiner Entscheidung twitterte er, dass es sich nicht um eine Gedenkzeremonie handele, sondern um die Zurschaustellung schlechten Geschmacks und mangelnder Sensibilität, die den trauernden Familien schade, die uns am meisten am Herzen liegen. Dieser Kommentar wurde von trauernden Angehörigen kritisiert, die Anstoß an Liebermans Anmaßung nahmen, über die richtige und falsche Art des Gedenkens zu entscheiden. Einer von ihnen war Hagai Yoel, dessen Bruder während seines Reservediensts im Westjordanland getötet wurde. Hagai fand   >>>

 

Video der Zeremonie 2020 (auf Hebräisch und Arabisch, mit englischen Untertiteln)

Video der Zeremonie 2019 (auf Hebräisch und Arabisch, mit englischen Untertiteln)

Video der Zeremonie 2018 (auf Hebräisch und Arabisch, mit englischen Untertiteln)

Proteste in Tel Aviv während des zweiten Lockdowns, Oktober 2020 - Oren Ziv, Activestills

 

Israel: Aufzeichnungen aus dem (zweiten) Lockdown
Die Corona-Maßnahmen im September dienten eher dem Machterhalt des Ministerpräsidenten
Tali Konas
 

Es war nicht legal und nach Meinung mancher sogar gefährlich, aber die Israelis ließen sich nicht zweimal mit demselben Trick an der Nase herumführen und sahen im Lockdown das, was er tatsächlich war: ein politisches Manöver Netanjahus.

Was Deutschland bevorsteht, hat Israel gerade hinter sich: Als erstes Land weltweit verhängte die Regierung im September einen zweiten Lockdown. Die Maßnahmen richteten sich unter anderem gegen die Proteste gegen Premierminister Benjamin Netanjahu.

Es scheint eine merkwürdige Parallele zu bestehen zwischen dem Anstieg der Corona-Erkrankungsfälle in Israel und einer Kette von sich aneinanderreihenden politischen Ereignissen im Lande: Beide wirken jedenfalls unaufhaltsam. So infizierten sich zwischen dem 20. August und dem 23. September in nur fünf Wochen mehr als 100.000 Menschen mit dem Virus – so viele wie zuvor in sechs Monaten. Auch die Zahl der Todesfälle stieg rasant an: Waren von Februar bis Anfang September weniger als 1.000 Personen an den Folgen des Virus gestorben, so liegt die Zahl Ende Oktober bei 2.200. 300.000 Menschen steckten sich seit Februar mit dem Virus an, von denen 272.000 als genesen gelten.

Zwischen Mai und Oktober hat die israelische Regierung jedoch nach eigener Einschätzung in anderen Bereichen viel geleistet: Da die Debatten um Israels öffentliche Gesundheitsversorgung und die durch den ersten Lockdown stark beeinträchtigte Wirtschaft beiseite gewischt wurden, konnte sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit den Dingen beschäftigen, die ihm näher am Herzen liegen: mit der Annexion von Teilen der besetzten Westbank, mit dem sogenannten Friedensabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain, mit dem Beginn der gegen ihn anstehenden Korruptionsprozesse sowie mit der Delegitimierung der Proteste gegen sein Festhalten an der Macht, die sich in wütenden Demonstrationen vor seinem Wohnsitz in Jerusalem entluden.

Aber alles lief schief: Die Annexionspläne wurden ausgesetzt, die Abkommen mit den beiden Golfstaaten wurden kritisiert und die Proteste weiteten sich aus – so wie Covid-19. Schließlich wurde am 18. September, am Vorabend der jüdischen Feiertage, ein Lockdown für drei Wochen verhängt. Diese Entscheidung traf Netanjahu fast im Alleingang, von kaum jemandem ermuntert oder gar aufgefordert. Im Gegenteil. Die Wochen, bevor der zweiten Lockdown beschlossen wurde, waren voller heftiger Diskussionen – ironischerweise hauptsächlich zwischen Netanjahu und seiner Anhängerschaft in der Knesset und den von ihm ernannten Corona-Zuständigen, die diese Krise verwalten sollten.

Als Hauptgrund für die rasche Verbreitung von Sars-CoV-2 seit dem Sommer war immer wieder die ungeregelte Aufhebung des ersten Lockdowns Mitte Mai genannt worden, als die Zahl der täglichen    >>>

 

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