Palästina 2030: eine Dystopie
Interview mit Muriel Asseburg von der
Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu Zukunftsszenarien für
Palästina
Muriel Asseburg - Katja Hermann
Die Fragen stellte
Katja Hermann, Leiterin des Westasien-Referats der
Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin.
Katja Hermann: Wenn Sie ein Szenario für Palästina im Jahr 2030
entwerfen müssten, worauf würden Sie besonders hinweisen?
Muriel Asseburg: Das plausibelste Bild Palästinas in zehn Jahren
ist das einer Dystopie. Ich gehe davon aus, dass die beiden
Hauptkonflikte, die derzeit die Situation bestimmen, auch dann
nicht gelöst sein werden: der israelisch-palästinensische
Konflikt und die innerpalästinensische Spaltung, also die
Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas. Das heißt aber
nicht, dass es beim Status quo bleiben wird. Vielmehr erwarte
ich eine fortschreitende Erosion der im Rahmen der
Oslo-Friedensverhandlungen [in den 1990er Jahren; Anm. d. R.]
verabredeten Arrangements.
Muriel Asseburg ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe
Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und
Politik (SWP) in Berlin. Sie beschäftigt sich derzeit vor allem
mit Konfliktdynamiken und -regelungsmöglichkeiten in Syrien und
Israel/Palästina. Aktuelle Publikationen finden sich in Ihrem
Forscherinnenprofil.
Wie könnte die Situation vor Ort dann aussehen?
2030 gäbe es keinen souveränen, lebensfähigen palästinensischen
Staat. Das ohnehin nur nominell demokratische Regierungssystem
der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) wäre
zusammengebrochen. Das palästinensische Territorium wäre noch
stärker fragmentiert als heute. Lokale Strongmen würden einzelne
Enklaven autoritär kontrollieren und hätten jeweils separate
Arrangements mit Israel.
Die PA hätte keine nennenswerte Funktion mehr, da ihre
Kapazitäten und Zuständigkeiten extrem erodiert wären – oder sie
wäre bereits Geschichte. Palästina wäre von starker Instabilität
geprägt, radikale Splittergruppen wären gestärkt.
Israel hätte große Teile der West Bank wiederbesetzt; die
ansässigen Palästinenser*innen wären dort wieder unter direkter
militärischer Besatzung – gleich, ob Israel die Gebiete de jure
annektiert hätte oder nicht. Damit einhergehen würde eine
beschleunigte Verdrängung der palästinensischen Bevölkerung aus
strategischen oder ideologisch bedeutsamen Gebieten (wie
Ostjerusalem, Jordantal, der sog. Seam zone [Gebietsstreifen
zwischen der Grünen Linie und der Mauer; Anm. d. R.], Hebron).
Der Gazastreifen wäre noch stärker abgeschottet als heute und
Jerusalem wäre von seinem palästinensischen Hinterland isoliert.
Es käme dort immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen
auf und um den Tempelberg/Haram al-Scharif.
Die internationale Präsenz wäre deutlich reduziert und würde
sich in erster Linie auf humanitäre Akteure beschränken. Der
Zugang für Menschenrechtsorganisationen, UN Fact Finding
Missions, diplomatische Vertretungen, internationale
Beobachter*innen, Solidaritätsbewegungen und Aktivist*innen
sowie internationale Medien wäre extrem eingeschränkt –
vergleichbar dem, wie es heute schon im Gazastreifen der Fall
ist. Damit fielen wichtige Schutzfunktionen für die
palästinensische Bevölkerung weg.
Was würde das für die internationale Zusammenarbeit bedeuten?
Die Regelung der Palästinafrage wäre in diesem Szenario für
internationale Akteure zunehmend irrelevant. Unterstützung
Europas und der USA wäre reduziert auf humanitäre Hilfe, vor
allem auf Nothilfe. Die Zusammenarbeit mit der palästinensischen
Zivilgesellschaft, Städtepartnerschaften, etc. fielen weitgehend
weg, da die palästinensischen Akteure bei uns wegen
Antisemitismus- und Terrorvorwürfen diskreditiert wären. Das
UN-Flüchtlingshilfswerk UNRWA wäre delegitimiert und stark
unterfinanziert. Damit hätten auch Verteilungskämpfe in
Palästina und in den Hauptaufnahmeländern der palästinensischen
Flüchtlinge [vor allem: Jordanien, Libanon, Syrien; Anm. d. R.]
zugenommen; es wäre zudem zu erheblichen Rückschritten bei der
Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele, der sogenannten
Sustainable Development Goals (SDGs) gekommen.
Diese Entwicklungen hätten auch Auswirkungen auf Europa. Denn
die junge palästinensische Generation sähe in Palästina keine
Perspektive mehr; auch die Hoffnung auf gleiche Rechte in einem
binationalen Staat [ein Ansatz, der als Alternative zur
Zwei-Staatenregelung diskutiert wird; Anm. d. R.] wäre stark
zurückgegangen. Die Folgen wären nicht zuletzt ein hoher
Migrationsdruck und ein Nährboden für Radikalisierung bzw. ein
Einfallstor für internationale jihadistische Rekrutierung.
Was muss getan werden, um die von Ihnen beschriebene Dystopie
noch abzuwenden?
Ich finde es sehr wichtig zu betonen, dass wir uns nicht in
einer griechischen Tragödie befinden, soll heißen: diese
Entwicklung ist nicht vorbestimmt. Sie kann durch ein
entschiedenes Umsteuern verhindert werden.
Dazu reicht es allerdings nicht, auf erneute Verhandlungen zu
setzen, ohne die Rahmenbedingungen zu verändern. Es muss
vielmehr darum gehen, bei Verhandlungen die asymmetrische
Machtsituation zwischen den Konfliktparteien auszugleichen –
statt wie unter der Trump-Administration noch zu verstärken. Vor
allem aber gilt es, auf die Kosten-Nutzen-Kalküle der beiden
Führungen Einfluss zu nehmen. Besatzung, De-facto-Annexion und
Verdrängung durch Israel dürfen dabei nicht normalisiert werden,
sondern müssen hohe Kosten haben. Autoritäres Regieren auf
Seiten der PA darf nicht hingenommen werden, sondern muss Folgen
nach sich ziehen.
Welche Rolle sollte dabei die deutsche Politik einnehmen, die
einerseits im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit der größte
bilaterale Geldgeber für Palästina ist, sich aber andererseits
mit politischen Forderungen zurückhält?
Ich halte drei Punkte für besonders wichtig: Erstens sollte
Deutschland seine Politik konsistenter an den Prinzipien
ausrichten, die durch die Zweistaatenregelung umgesetzt werden
sollen, also an einer Regelung des Konflikts, die auf dem
Selbstbestimmungsrecht beider Völker beruht, die individuelle
Menschenrechte sowie die Sicherheit aller garantiert und die die
Flüchtlingsfrage so regelt, dass sowohl das individuelle Recht
palästinensischer Flüchtlinge auf Rückkehr als auch die
Interessen von derzeitigen und potentiellen Aufnahmestaaten,
inklusive Israels, berücksichtigt werden. Konkret lässt sich
daraus unter anderem eine konsistente Differenzierung zwischen
Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten ableiten,
die sich in einem Umgang mit Siedlungsprodukten und
Geschäftsbeziehungen mit Siedlungen niederschlagen müsste, der
der völkerrechtlichen Position angemessen ist. Es würde auch
beinhalten, sich Delegitimationskampagnen gegen
Menschenrechtsverteidiger*innen klar entgegenzustellen sowie die
Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit in Deutschland
gegenüber solchen Kampagnen zu schützen. Und es würde bedeuten,
internationale Untersuchungen, etwa durch den Internationalen
Strafgerichtshof, zu unterstützen statt sie verhindern zu
wollen.
Zweitens sollte Deutschland als größter bilateraler Geber seine
Erwartungen gegenüber der PA klar ausbuchstabieren und
Unterstützung nicht bedingungslos gewähren. An erster Stelle
sollten dabei die Überwindung der internen Spaltung zwischen
Fatah und Hamas sowie eine demokratische Erneuerung der
palästinensischen Institutionen stehen. Dabei reicht es nicht,
auf die Abhaltung von Wahlen zu drängen. Denn derzeit sind die
Bedingungen für freie und faire Wahlen nicht gegeben, selbst
wenn man von den Einschränkungen der Besatzung absieht. Diese
müssten zunächst einmal geschaffen werden, damit Wahlen die
Spaltung nicht weiter vertiefen, sondern zu einer personellen
Erneuerung führen und eine legitimierte palästinensische Führung
mit breiter Akzeptanz hervorbringen können. Gleichzeitig müssen
Deutschland und seine Partner*innen in der EU auch überprüfen,
wo sie selbst einer Umsetzung dieser Forderungen im Wege stehen
– etwa durch ihre no contact policy gegenüber der Hamas.
Drittens sollte sich Deutschland gemeinsam mit europäischen
Partner*innen – hier bietet sich das Quintformat an, das
Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und das Vereinigte
Königreich umfasst – kurzfristig für vertrauensbildende
Maßnahmen und mittelfristig für eine Konfliktregelung einsetzen.
Dazu sollten sie, ausgehend von den bisherigen Erfahrungen und
unter Einbeziehung Jordaniens, Ägyptens und der arabischen
Golfstaaten und in Kooperation mit der nächsten
US-Administration, auf einen geeigneten multilateralen Rahmen
für Verhandlungen hinarbeiten. Dazu würde gehören, Prinzipien
für eine Verhandlungsregelung vorzugeben, eine robuste und
unparteiische Vermittlung anzubieten, die Umsetzung eines
Abkommens durch einen unabhängigen Überprüfungs- und
Konfliktregelungsmechanismus zu begleiten und substantielle
Sicherheitsgarantien vorzusehen. Im Vordergrund muss allerdings
auch dann die Frage stehen, wie bei den Konfliktparteien der
notwendige politische Wille zu einem tragfähigen Ausgleich
mobilisiert werden kann, statt lediglich gebetsmühlenartig auf
eine Zweistaaten-Regelung und die Notwendigkeit von
Verhandlungen zu verweisen. Dies dürfte ohne das
Ausbuchstabieren konkreter Kosten im Falle von Nichtkooperation
kaum gelingen.
Quelle
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Offener Brief
Wir können nur ändern, was wir
konfrontieren
Als Künstler*innen,
Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen und
Kulturschaffende, die in Deutschland leben und/oder mit
deutschen Kulturinstitutionen zusammenarbeiten, begrüßen wir die
„Initiative GG 5.3. Weltoffenheit“, die am 10.
Dezember 2020 von einer breiten Koalition bedeutender deutscher
Kultureinrichtungen bekanntgegeben worden ist.
Die genannte Initiative ist eine späte Reaktion auf den
umstrittenen Bundestagsbeschluss vom Mai 2019, in dem die Ziele
und Methoden der palästinensischen Solidaritätsbewegung „Boycott,
Divestment, Sanctions“ (BDS) offiziell als antisemitisch
verurteilt wurden. Dieser Beschluss wurde von einer breiten
Mehrheit fast aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien
getragen und forderte, Projekten, die die BDS-Bewegung „aktiv
unterstützen“, öffentliche Gelder zu entziehen. Die
Stellungnahme kritisiert diesen Bundestagsbeschluss und
beschreibt ihn als „gefährlich“. Wir teilen diese Besorgnis und
betrachten die Einschränkung des Rechts auf Boykott als
Verletzung demokratischer Prinzipien. Seit Verabschiedung dieses
Beschlusses wird er als Mittel eingesetzt, um marginalisierte
Positionen zu verzerren, zu verleumden und zum Schweigen zu
bringen, insbesondere solche, die sich für palästinensische
Rechte einsetzen oder kritisch zur israelischen Besatzung
äußern.
Wir fordern den Deutschen Bundestag eindringlich dazu auf, das
Urteil des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu
achten, der kürzlich die Kriminalisierung von Israel-bezogenen
Boykottaufrufen ablehnte und gegen eine Verfolgung gewaltloser
Aktivist*innen entschied sowie Boykotte als legitime Ausübung
von Meinungsfreiheit bestätigte (Juni 2020). Kein Staat sollte
von Kritik ausgenommen sein. Unabhängig davon, ob wir BDS
unterstützen oder nicht, sind wir uns als Unterzeichner*innen
dieses Briefs einig, dass es ein Recht darauf gibt, gewaltfreien
Druck auf Regierungen auszuüben, die Menschenrechte verletzen.
Wir lehnen den Bundestagsbeschluss ab, weil er genau dieses
Recht verweigert. Wir lehnen ihn ab, weil er die Polarisierung
innerhalb der Kulturszene in einer Zeit verschärft hat, in der
der Aufstieg rechter Nationalismen von uns erfordert, in
Solidarität im Kampf gegen den zunehmenden Hass
zusammenzustehen, der sich in Deutschland und darüber hinaus
verbreitet. Wir lehnen ihn ab, weil er für öffentliche
Institutionen genau in dem Moment praktisch ein Klima der Zensur
geschaffen hat, in dem diese sehr vielfältige, in Deutschland
aktive Community eine wichtige Rolle bei der Schaffung einer
kritischen und inklusiven Kultur spielen sollte, auch als
Alternative zu Autoritarismus, Rassismus und Xenophobie, die die
extreme Rechte zu verfestigen versucht.
Der Beschluss hat ein repressives Klima erzeugt, in dem
Kulturschaffende routinemäßig dazu aufgefordert werden, BDS zu
verurteilen, um in Deutschland arbeiten zu können. Währenddessen
werden Kulturinstitutionen immer mehr von Angst und Paranoia
getrieben, zeigen sich anfällig für Selbstzensur und schließen
in vorauseilendem Gehorsam kritische Positionen durch
Nichteinladung aus.
Eine offene Debatte über vergangene und gegenwärtige
Verantwortlichkeiten Deutschlands in Bezug auf Israel/Palästina
ist so gut wie erstickt worden. Foren des kulturellen
Austauschs, in denen wir bisher zusammengekommen sind, um über
die ineinander verschränkten Geschichten nachzudenken und zu
debattieren, aus denen wir kommen und in denen wir existieren,
werden regelmäßig verweigert, da Institutionen bestrebt sind,
politische Zurechtweisung und den Verlust öffentlicher Mittel zu
vermeiden. In diesem Klima wurden bereits einige wertvolle
Stimmen – wie die von
Achille Mbembe,
Kamila Shamsie,
Peter Schäfer,
Nirit Sommerfeld und
Walid Raad – dämonisiert, was die notwendige
kollektive Beurteilung sich überkreuzender Formen und Wirkungen
von Gewalt behindert, die unsere Gegenwart weiterhin prägen.
Der Beschluss ignoriert die Vielfalt jüdischer Meinungen
innerhalb und außerhalb Deutschlands, insbesondere die vieler
linker jüdischer und israelischer Stimmen, die die gut
dokumentierten Verstöße Israels gegen das Völkerrecht vehement
kritisieren. Solche Stimmen werden erstaunlicherweise – und
immer häufiger – als „antisemitisch“ disqualifiziert. Der
Beschluss lässt außerdem Warnungen von außenpolitischen
Experten, Menschenrechtsorganisationen und deutschen Stiftungen
außer Acht, die direkt im Nahen Osten tätig sind und von denen
viele sich ausdrücklich gegen die problematische Art und Weise
gewandt haben, in der der Beschluss Kritik an Israel mit
antijüdischem Rassismus vermischt. Diese Vermengung schützt
Israel davor,
gemäß völkerrechtlichen Maßstäben zur Rechenschaft gezogen zu
werden, und verschleiert die historischen und
politischen Umstände, die den palästinensischen Kampf für
Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit hervorgerufen haben. Sie
schadet auch dem anhaltenden Kampf gegen den virulenten Anstieg
von Antisemitismus weltweit sowie innerhalb des deutschen
Parlaments, der Polizei, der Bundeswehr und der Geheimdienste.
Wir erkennen das Bekenntnis Deutschlands zu seiner historischen
Verantwortung für den Holocaust an und schätzen es zutiefst.
Gleichzeitig verurteilen wir die ungeheure Nachlässigkeit des
deutschen Staates, wenn es darum geht, die deutsche Täterschaft
für vergangene koloniale Gewalt anzuerkennen. Der Kampf gegen
Antisemitismus kann nicht nach Belieben von parallelen Kämpfen
gegen Islamophobie, Rassismus und Faschismus entkoppelt werden.
Nachdrücklich lehnen wir die Monopolisierung von
Unterdrückungserzählungen durch Staaten wie Deutschland ab, die
historisch Unterdrücker waren. Wir lehnen die Vorstellung ab,
dass die Leiden und Traumata von Opfern politischer und
historischer Gewalt gemessen und in eine Rangfolge gebracht
werden können.
In Solidarität mit den Kulturinstitutionen, die sich vor uns
geäußert haben, fordern wir den Deutschen Bundestag auf, den
umstrittenen Beschluss zurückzunehmen. Wir fordern die
Kulturinstitutionen auf, ihren Worten bedeutsame Taten folgen zu
lassen. Wir bitten sie, eine Führungsrolle bei der
Wiederherstellung von Bedingungen einzunehmen, unter denen der
produktive Austausch widerstreitender Meinungen stattfinden
kann. Eine übereifrige Überwachung der politischen Ansichten von
Kulturschaffenden aus dem Nahen Osten und dem globalen Süden
muss als das angesehen werden, was es ist – Racial Profiling
durch die Hintertür –, und muss sofort eingestellt werden. Die
Verleumdung von Individuen durch unbegründete
Antisemitismusvorwürfe muss aufhören.
Wir schließen mit den Worten James Baldwins, einem
scharfsinnigen Beobachter der Verbrechen des Holocaust sowie der
Grauen der Sklaverei, des Kolonialismus und des Rassismus:
“Not everything that is faced can be changed. But nothing can be
changed until it is faced.” -
Quelle
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