Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Freundinnen und Liebe Freunde! - Abed
Schokry - Gaza am 29. März 2019 Es
sind fast sieben Wochen vergangen, seitdem ich
Ihnen meine letzte Rundmail zur aktuellen Lage
im Gazastreifen geschickt habe. Inzwischen ist
wieder sehr viel passiert.
Die Ereignisse im März waren so intensiv, dass
es fast zum „Krieg" zwischen dem Gazastreifen
und dem Staat Israel gekommen wäre. (Ob der
Begriff „Krieg" richtig ist, kann man angesichts
des extremen Ungleichgewichts der Kräfte bzw.
der Waffen bezweifeln).
Es ist mir an dieser Stelle gar nicht möglich,
auf alle Ereignisse einzugehen. Aber die
folgenden Punkte möchte herausheben und aus
meiner Perspektive darstellen.
· Der große Rückkehrmarsch
· Verhandlungen über den Waffenstillstand
· Demonstrationen: Im Gazastreifen gegen „Hamas"
und gegen die Lage insgesamt
· Die andauernde israelischen Belagerung und
Aggression
Am 30. März 2018 begann die Bevölkerung im
Gazastreifen mit Demonstrationen gegen die mehr
als zehnjährige Blockade. Dieser Widerstand
wurde als der „große Rückkehrmarsch" bezeichnet,
weil mit dem Protest gegen die vollkommene
Abriegelung unseres Gebiets auch verbunden war
und ist, in die Dörfer und Felder zurückkehren
zu wollen, aus denen die Palästinenser bei der
Gründung des Staates Israels vertrieben worden
sind. Nun kommt der erste Jahrestag dieser
Protestbewegung, deshalb ist für den 30. März
ein Generalstreik geplant. Die gesamte
Bevölkerung ist aufgerufen, sich an diesem Tag
in Richtung der östlichen Grenze des
Gazastreifens zu begeben, um gegen die
Belagerung zu demonstrieren und um an das Recht
auf Rückkehr zu erinnern.
Über 260 Menschen wurden an der einseitig
erklärten Grenzbefestigung seit Beginn der
Protestbewegung von israelischen
Scharfschützen(und Angriffen) erschossen und
Tausende, junge wie alte, Kinder, Frauen und
Männer wurden verletzt. Auf 6000 Menschen wurde
ohne, dass die Situation nachweislich für die
israelischen Soldaten lebensbedrohlich gewesen
wäre, scharf geschossen, selbst dann, wenn die
Palästinenser sichtbar als medizinisches
Personal im Einsatz oder als Medienvertreter
deutlich sichtbar gekennzeichnet waren.
Unabhängige UN Experten haben im Februar ihren
Untersuchungsbericht zur Gewaltanwendung durch
Israel vorgelegt. Aus diesem Bericht möchte ich
nur einige Sätze wiedergeben.
„Einige der Menschenrechtsverletzungen könnten
Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die
Menschlichkeit gewesen sein, die Israel umgehend
untersuchen muss."
„Besonders alarmierend ist es, dass Kinder und
Menschen mit Behinderungen absichtlich zur
Zielscheibe wurden."
Die UN Kommission schrieb: Wenn es nicht um
legitime Selbstverteidigung gehe, sei es ein
Kriegsverbrechen, Zivilisten ins Visier zu
nehmen, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt
seien. Sie habe Grund zur Annahme, dass einige
Mitglieder der israelischen Sicherheitskräfte
Zivilisten getötet und verwundet hätten, die
nicht direkt an Kampfhandlungen teilnahmen und
keine unmittelbare Gefahr darstellten. Die
Kommission rief Israel zudem auf, die Blockade
zu beenden.
Wenn nicht von den israelischen Soldaten mit
Tötungsabsicht gezielt geschossen wurde, so
zielten sie fast immer auf die Beine oder Arme
der Menschen, so dass sie oft amputiert werden
mussten. Was wird aus dem Leben dieser zumeist
jungen Menschen?
Die für den 30. März 2019 geplante Demonstration
soll und wird hoffentlich friedlich ablaufen. Ob
auch die Soldaten zu friedlichem Verhalten
bereit sind, wird man sehen. Ich werde darüber
berichten. Der massive Truppenaufmarsch auf
israelischer Seite lässt nichts Gutes ahnen.
Gleichzeitig gehen die Verhandlungen über den
Waffenstillstand zwischen dem Gazastreifen und
Israel weiter. Ägypten, Katar und die UNO sind
in die Vermittlungen involviert. So pendelt eine
ägyptische Sicherheitsdelegation ständig
zwischen Tel Aviv und dem Gazastreifen. Ebenso
der Botschafter aus Katar, Herr AI-Amady und der
UNO Gesandte Herr Maldenov. Diese Gespräche
sollen das Ende der Blockade gegen den
Gazastreifen, die seit 2006 existiert und im
Juni 2007 verschärft wurde, da Hamas die Macht
über den Gazastreifen gewaltsam an sich riß, als
Endergebnis haben. (Es sei hier darauf
hingewiesen, dass Hamas damals die freien Wahlen
mit absoluter Mehrheit gewonnen hat. Aber weder
die Weltgemeinschaft, noch Israel und ebenso die
Fatah haben es geschafft, mit Hamas zu
arbeiten.) Weiterhin soll die Wirtschaftskrise
im Gazastreifen gelindert werden, und es gab
sogar Anzeichen für ein
Waffenstillstandsabkommen zwischen dem
Gazastreifen und Israel im Vorfeld der für den
9. April geplanten israelischen Wahlen. Aber die
Dynamik des Nahen Ostens läßt es nicht zu, dass
man hofft, dass man plant, dass man denkt. Denn
hier kommt es erstens anders und dann als man
denkt.
Auch im März gab es Demonstrationen. Diesmal
auch in Gaza selbst. Gegen einige hundert
Bürger, die an dieser Demonstration unter dem
Motto "Wir wollen leben" teilnahmen, und zwar
als Ausdruck der harten Lebensbedingungen der
Bewohner im Gazastreifen, sind die
palästinensischen Sicherheitskräfte teilweise
stark vorgegangen. Manche dieser Demonstranten
trugen politische Slogans gegen die Hamas. Es
wird in den Medien darüber berichtet, dass die
Sicherheitskräfte der Fatah in Ramallah
dahintersteckten. Natürlich geben sie es nicht
zu.
Über die sehr schwierigen Lebensbedingungen
hatte ich Ihnen immer wieder berichtet. Seit
über fünf Jahren bekomme ich als
„Juniorprofessor" teilweise nur 30 % meines
monatlichen Gehaltes und das obwohl ich an einer
„nationalen Universität" tätig bin. Die
Gehaltskürzungen betreffen alle Beamten und
Beamtinnen beider Regierungen, der Hamas seit
über fünf Jahren und der Fatah seit nun über
zwei Jahren. (nur in Gaza!!!)
Wir haben über eine Viertelmillion
Universitätsabsolvent/Innen mit mindestens
Bachelorabschluss. Diese brauchen unbedingt
Arbeit. Die gibt es aber nicht. Viele versuchen
Gaza legal zu verlassen, aber es ist nicht
einfach Gaza zu verlassen. Israel und Ägypten
lassen seit Jahren nur sehr selten Menschen
ausreisen. Sie erinnern sich, dass ich trotz
meines Visums im letzten Jahr nicht ausreisen
durfte. Nur wenige Güter kommen über die Grenze
in den Gazastreifen. Das macht wirtschaftliches
Wachstum praktisch unmöglich. Wie sollen Preise
niedrig bleiben, wenn es kaum Handel mit dem
Ausland gibt?
Die andauernde israelische Aggression und die
Besatzung, die uns kaum Luft zum Atmen lässt,
wird weiter dazu führen, dass die Menschen in
Gaza aufbegehren. Solange es die israelische
Besatzung gibt, so lange wird es Widerstand
gegen sie geben. Das sage ich als jemand, der
absolut gegen Gewalt eingestellt ist und sogar
als Pazifist bezeichnet werden könnte. Aber wenn
man Menschen einsperrt, sie unterdrückt, ihnen
jeden Lebensmut, jede Lebensperspektive nimmt,
sie nichts zu verlieren haben, dann werden sie
sich wehren.
Gedanken zur aktuellen Lage hier in Gaza
- Was in Gaza passiert, ist das Ergebnis dessen,
was von mehreren Parteien zu verantworten ist,
die Gaza als ein Versuchsfeld betrachten. Hamas
kontrolliert den Gazastreifen, also sie trägt
die Gesamtverantwortung für alles, was hier los
ist, so denkt die Bevölkerung in Gaza (und
ebenso Israel!). Denn Hamas ist sozusagen die
Regierung. ABER sie ist ohne finanzielle
Einnahmen, um den Pflichten einer Regierung
nachzukommen, denn die Steuereinnahmen werden
von Israel auf alle importierten Waren
einkassiert und an die PA (Fatah) nach Ramallah
überwiesen. Hamas erhebt auch Steuern, aber das
sind sehr wenige im Vergleich zu denen, die
Fatah über Israel bekommt.
Die Bevölkerung in Gaza leidet unter Armut, was
als eine Folge der seit Jahren andauernden
Belagerung, ist. Es mangelt weiterhin an vielen
Gegenständen, die im Alltag benötigt werden. Die
Arbeitslosenquote ist sehr hoch, wahrscheinlich
die höchste weltweit, hinzu kommen die
unbezahlten Gehälter, durch die Gehaltsabsenkung
von Tausenden von Angestellten und Beamten.
Es wird in den Medien darüber berichtet, dass
die Fatah-Regierung in Ramallah versucht, Gaza
als offizielle Adresse des palästinensischen
Volkes wieder unter seine Zuständigkeit zu
bringen. Die Fatah zielt darauf ab, die
Bevölkerung in Gaza gegen die Hamas auf die
Straße zu treiben. Die Fatah möchte, dass die
Menschen in Gaza die Hamas für die schlechte
Lebenssituation verantwortlich machen und gegen
sie demonstrieren. An unserer ganzen Misere ist
eben auch der Streit zwischen den beiden
palästinensischen Parteien mitschuldig. Würden
sie mit einer Stimme sprechen, wäre sehr
wahrscheinlich die Verhandlungsposition mit
Israel und auch mit allen Regierungen weltweit
wesentlich stärker. Zu spalten, Unfrieden zu
stiften nützt uns Palästinensern nichts. Das
nützt nur denen, die gegen uns sind. Also kann
ich nur weiterhin hoffen, dass wenigstens wir
Palästinenser und die jeweiligen Regierungen
Fatah und Hamas miteinander Frieden schließen.
Nur gemeinsam sind wir stark. Na ja, mindestens
etwas stärker bei Verhandlungen über unsere
Zukunft. Immer wenn sich die jeweiligen
Regierenden nicht einig sind, leiden die
Menschen, und zwar so, wie es die regierenden
Personen gar nicht kennen. Das scheint mir
überall auf der Welt so zu sein, wo dieser
Unfrieden herrscht.
Wir brauchen Brückenbauer und keine Zäunebauer,
wir brauchen Personen, die uns Hoffnung machen
und Perspektiven eröffnen. Wir brauchen
Personen, die Frieden stiften, Personen mit
Visonen für die Zukunft, eine Zukunft, in der
wir uns als Menschen fühlen und in der wir uns
frei entfalten und bewegen können und in der wir
planen können. Dafür brauchen wir auch einen
eigenen Flughafen und Hafen, damit wir reisen
und Handel treiben können. Ich bin dafür, dass „Gelbe-Helme"
meinetwegen zunächst die Kontrolle über die
Institutionen bekommen sollen, um eben die
Sicherheit des Nachbarn sozusagen zu
garantieren. Wir wollen aber ein Leben
unabhängig von einer dritten Seite haben und
führen können.
Mir scheint unsere Situation wie folgt zu
beschreiben: Die Israelis und die
Palästinenser führen eine Zwangsehe. Ein
Zusammenleben ist nicht möglich, und eine
Scheidung ist ebenfalls nicht möglich. Aber was
sollen wir nun tun? Vielleicht hört oder liest
ja mal ein verantwortlicher Politiker meine
Vorschläge.
In der Hoffnung, dass der 30. März einigermaßen
ruhig verlaufen wird, verbleibe ich für heute -
Mit freundlichen Grüßen Ihr Abed Schokry |